Der Gesellschaftsvermesser

Michel Houellebecq ist mit „Karte und Gebiet” eine hellsichtige und komische Betrachtung unserer modernen Welt gelungen
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Einen Autor wie Michel Houellebecq gibt es in der deutschen Gegenwartsliteratur leider nicht. Seit seinem Debüt „Ausweitung der Kampfzone” (1994) seziert der Franzose mit präziser Prosa, unglaublicher Hellsichtigkeit und einer großen Prise Zynismus die westliche Welt. Mit seinem neuen Roman „Karte und Gebiet” hat er sein Meisterstück geliefert.

In Frankreich wurde dem 53-Jährigen im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt endlich (und sehr spät) die höchste literarische Weihe verliehen, auch weil sein aktuelles Buch auf die Provokationen früherer Bücher verzichtet. Der Sextourismus von „Plattform” kommt nur noch in Nebensätzen vor, das postsexuelle Glück der neuen Menschen in „Elementarteilchen” verlagert der Autor auf den kleinen Bologneserhund Michou, den treuen Freund eines Pariser Kommissars. Dafür vertieft Houellebecq seinen bislang unterschätzten Hang zur Selbstironie.

„Karte und Gebiet” erzählt die Geschichte des Künstlers Jed. Dieser wird mit einer Ausstellung von originell fotografierten Ausschnitten aus Michelin-Straßenkarten zum neuen Star auf dem Kunstmarkt, dann verlagert er sich auf die Malerei und stellt den Menschen im Arbeitsprozess dar. Handwerker, Unternehmer, Künstler. Schon die Gemälde-Titel „Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik” oder „Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf” verweisen auf die satirische Bosheit, mit der Houellebecq Kunst, Markt und die Alphamännchen des Kapitalismus auseinander nimmt.

Dann tritt er selbst auf: Jed möchte den Autor Houellebecq für ein Katalogvorwort gewinnen. Schließlich reist er zum Besuch des Autors nach Irland (wo der reale Houellebecq ein paar Jahre lebte) und trifft dort auf „ein gequältes Wrack”, stark alkoholisiert, total isoliert: „Er glich einer alten, kranken Schildkröte.” Das Selbstporträt wird im Laufe des Buches keineswegs schmeichelhafter. „Alles in allem hatte er selten jemanden gesehen, der ein so beschissenes Leben führte”, wird später der Kommissar resümieren, nach Auswertungen von E-mails und Telefongesprächen. Da aber ist Houellebecq schon zurückgezogen in sein französisches Heimatdorf – und vor allem: mitsamt seinem Hund auf bestialische weise ermordet und zerstückelt worden.

Das Glück, das der fiktive Houellebecq kurze Zeit in der vertrauten Provinz gefunden hatte, ist wie das Liebesglück in den vergangenen Romanen natürlich ein flüchtiges. Entfremdung im Leben, im Arbeitsprozess und selbst im Tod, die Schattenseiten des Wirtschaftsliberalismus und die falsche Flucht in die „authentische” Vergangenheit sind die Themen, die sich motivisch durch diesen komplexen Roman ziehen.

Der Autor variiert die Tonlage, streift durch essayistische Sequenzen über William Morris und die sozialistischen Bewegungen des 19.Jahrhunderts, bietet hinreißend komische Betrachtungen über die Verirrungen der Menschen in der Warenwelt. Unerlöst taumelt er durch einen gescheiterten Kapitalismus, zu dem er keine Alternative sucht.

Houellebecq findet für diese Verzweiflung einen Ton, der unter die Haut geht: Als Jed und der Kommissar nach der Besichtigung von Houellebecqs Haus und Tatort in einem Autobahnrestaurant einkehren, beobachten sie eine verbitterte Putzfrau: „Sie wrang den Putzlappen über ihrem Eimer in einer Weise aus, als ließe sich für sie die Welt darin zusammenfassen: eine zweifelhafte, von Schmutzschichten aller Art bedeckte Oberfläche.”

Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet” (DuMont, 416 Seiten, 22.99 Euro)

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