Der Besuch der alten Dame
Die Felder sind schon abgemäht, die Sonne steht tief und leuchtet auf die Dächer der kleinen roten Holzhäuschen. Der Zug rollt durch Småland, durch Kiefernwälder und vorbei an idyllischen Seen.
War es hier, wo Lasse und Bosse aus Bullerbü ihre Geheimgänge durchs Heu gegraben haben?
War es nicht, aber es könnte doch hier gewesen sein, weil es überall in Südschweden so aussieht wie in den Büchern von Astrid Lindgren. Es ist eine Welt der Kindheit, die jeder kennt, auch wenn er noch nie in Schweden war, eine Welt des Glücks im flirrenden Gegenlicht.
Es ist der Oktober 2001, ich bin unterwegs nach Vimmerby, der Stadt, in der Astrid Lindgren geboren wurde. Eine Reportage für die „Süddeutsche Zeitung” soll es werden, ein Besuch der Orte, an denen ihre Geschichten spielen. Pippi Langstrumpf, Karlsson vom Dach, Michel aus Lönneberga und all die anderen. Und vorher eine Begegnung mit der weltberühmten Schriftstellerin.
Monatelang haben wir uns um einen Termin bemüht, immer wieder kamen Absagen, Verschiebungen, freundliche Vertröstungen. Bis schließlich Lindgrens Agentin antwortete: „Kommen Sie nach Stockholm. Astrid erwartet Sie.”
Die Schriftstellerin lebt auch im Alter von 94 Jahren noch in der gleichen Wohnung, in die sie vor 60 Jahren eingezogen ist. In der Dalagatan, einer lebhaften Straße gegenüber dem Vasapark, in einem Altbau mit gelber Fassade und antikem Aufzug.
Es geht ihr schlecht, kurz zuvor hatte sie einen Schlaganfall, sie kann kaum sprechen und wird von einer Freundin gepflegt. Aber sie beobachtet mit lebhaften Augen, wie der Besucher aus Deutschland herumgeführt wird.
In der Wohnung sieht es so aus, wie man sich Astrid Lindgrens Wohnung vorstellt: Alles ist mit Büchern vollgestellt, viele Bilder hängen an den Wänden. Das bunteste Regal ist das mit den Kinderbüchern, die meisten davon hat sie selbst geschrieben.
Ihr Werk ist in 94 Sprachen übersetzt worden, deshalb stehen in diesem Regal auch Bände von „Ronja Räubertochter” auf Vietnamesisch und den „Kindern von Bullerbü” auf Färöisch. Nach einer offiziellen Schätzung wurden weltweit 140 Millionen Astrid-Lindgren-Bücher verkauft. Und täglich werden es mehr.
Im Nebenzimmer, in dem sie früher gearbeitet hat, lehnt ein zusammengeklappter Rollstuhl an der Wand, auf dem Schreibtisch liegen Arztpapiere, auf dem Boden steht eine weiße Reiseschreibmaschine, Marke „Facit Privat”. Auf dieser Maschine ist fast ihr gesamtes Werk entstanden, los ging es mit „Pippi Langstrumpf”. 1941 war das, ihre Tochter Karin lag hier in diesem Zimmer auf dem Sofa und rief: „Erzähl mir was. Von Pippi Langstrumpf!” Der Name war ihr in diesem Moment eingefallen. Die Mutter erzählte – und schrieb es danach auf. Der erste Verleger, dem sie es anbot, lehnte die Geschichte übrigens ab.
Die Freundin serviert noch einen Tee, ich berichte Astrid Lindgren von meinem Plan, nach Småland zu fahren. Sie lächelt, aber sagt nichts. Ob sie mich versteht? Es herrscht eine friedliche, schöne Atmosphäre in ihrer Wohnung, draußen rennen Jogger durch den Vasapark. Drei Monate später ist sie tot.
Auf der Fahrt durch Südschweden gibt es dann viele Gelegenheiten, um darüber nachzudenken, warum uns Astrid Lindgrens Geschichten mehr berühren als die Kinderbücher aller anderen Autoren. Warum lieben seit 50 Jahren alle Siebenjährigen dieser Welt Karlsson vom Dach? Einen egozentrischen, gefräßigen, vorlauten Kerl mit Propeller auf dem Rücken?
Die Antwort findet man nicht in Småland, wo die Autorin in Astrid-Lindgren-Freizeitparks vermarktet wird. Nein, die Original-Schauplätze ihrer Geschichten sind nicht in Schweden. Sie sind im Kopf des Lesers.
Vielleicht ist das, was uns an der Welt der Astrid Lindgren so fasziniert, ihre komplett anti-pädagogische Haltung. Die enorme Radikalität, mit der sie auf der Seite der Kinder steht. In einer Erzählung machen Albin und Stig, die zwei Angeber, eine Mutprobe: Sie klettern immer wieder auf eine Scheune und springen herunter, immer ein Stück höher und noch ein Stück – und schließlich brechen sie sich beide ein Bein, einer das rechte, der andere das linke. Lindgren erzählt das einfach so, es ist nicht schlimm, es ist passiert, na und?
Heute vor genau zehn Jahren ist Astrid Lindgren gestorben. Aber eigentlich ist sie mehr lebendig als tot.