Der beste Musiker unter den Tänzern und der beste Tänzer unter den Musikern
André Presser dirigierte 666 Vorstellungen für das Staatsballett in München und weiß viele Anekdoten von Tanzstars zu erzählen
Als André Presser einmal in New York mit Rudolf Nurejew beim Essen war, belästigte eine Verehrerin den russischen Tanz-Star mehrfach mit der Frage: „Mr. Nurejew, what is the secret of your success?“ Bis es dem Meister zu bunt wurde. Nurejew stand auf, öffnete die Hose und deutete zwischen seine Beine: „Hier liegt das Geheimnis meines Erfolges. André, let’s go.“
Der Underdog im Graben
Diese und ähnliche Geschichten hat André Presser, mittlerweile 75, auf Lager. So lag es nahe, dass er von einer Journalistin sein Leben aufzeichnen ließ. „ André Presser. Der Ballettdirigent“ von Annette Bopp schildert nicht nur private Turbulenzen, mehrere Ehen mit nicht immer pflegeleichten Partnerinnen, sondern weist auch einfühlsam auf jene melancholischen Gefühlswelten hin, denen sich die dirigierenden Underdogs im Orchestergraben mehr oder weniger freiwillig ausgesetzt haben. Schließlich bekommen sie bei einer Ballettaufführung so gut wie nie eine Chance, sich publikumswirksam zu präsentieren.
Der Tanz-Maestro weiß darum, dass er gelegentlich nicht für voll genommen wird: „Das Publikum hat schließlich nicht dafür bezahlt, diesen Kerl im Graben zu sehen oder zu hören, sondern es hat dafür bezahlt, dass der Vorhang aufgeht. Leider tut er das nicht, wenn dieser Kerl nicht reinkommt.“
Wagner ist ihm zu lang
André Presser hat sich damit abgefunden: „Ich dirigiere, wie bezahlt“, zitiert ihn die Autorin. „Ich dirigiere sogar Mozart, obwohl ich dessen Musik überhaupt nicht mag. Mit Tanz geht alles.“ Die aufmüpfige Ehrlichkeit des Holländers macht Spaß. Gerne lässt man sich einlullen. Auch von den zwischen die Pointen gestreuten Wahrheiten. Dass Ballettdirigenten mit Nicht-Musikern auf der Bühne und mit Musikern im Graben zusammen arbeiten: „Daraus entstehen die Spannungen“, erklärt Presser, und man glaubt es ihm aufs Wort. Wann passiert es schon einmal, dass sich ein klassisch ausgebildeter Musiker ohne Scheu dazu bekennt, dass ihm Wagner „zu lang“ ist: „Das kann ich nicht aussitzen.“
Puccini hört er „tausendmal lieber“ als Verdi: „Man frage mal einen 2. Geiger, was er von ,La traviata’ hält, er spielt den ganzen Abend nur tschipp-tschipp-mmmm, tschipp-tschipp-mmmm. Schrecklich.“ Da seufzt Presser wohl so manchem Musikbeamten aus der Seele.
Ohne Allüren
Statt Beethovens „Mondschein-Sonate“ hört er lieber Cole Porters „Night and Day“. Als er einmal „Isoldes Liebestod“ dirigieren musste, „ohne Stimme, nur die Musik“, da fand er das „umwerfend“. Doch das Tollste sei ohnehin der weithin unbekannte Judy-Garland-Song „The Letter“: „Das ist Leben. Oper pur! Aber ganz anders als das, was man sonst unter Oper versteht.“
Allüren sind Presser zuwider: „Dieses: Hast du schon meinen Mahler oder meinen Brahms gehört? Schrecklich! Im Ballett ist das völliger Quatsch. Da gibt es nicht meinen Tschaikowsky, sondern höchstens unser ,Dornröschen’.“
Konstanze Vernon holte André Presser nach München. Bis 2001 wirkte er als ständiger Dirigent des Bayerischen Staatsballetts. Annette Bopp animierte Konstanze Vernon zum Schwärmen: „Er hat geschaut und uns getragen.“ Ein größeres Lob ist kaum denkbar. Vernon-Nachfolger Ivan Liska mag da anderer Meinung gewesen sein. Nach 666 Vorstellungen für das Staatsballett musste Presser, der Hundefreund und Frauenverehrer, seinen Münchner Job an den Nagel hängen. Arbeitslos wurde er nicht.
Dass er „im Grunde keine Musik machen darf, sondern lediglich den Tanz begleiten muss“, hat bei Presser keine Narben hinterlassen, im Gegenteil: „Ich bin der beste Musiker unter den Tänzern und der beste Tänzer unter den Musikern.“ Und das ist nun wirklich eine ganze Menge.
Volker Boser
Annette Bopp: „André Presser. Der Ballettdirigent“ (rüffer&rub, 260 Seiten, 27.90 Euro)