Den Spieß umdrehen

Das zahme Mädchen mit der Gitarre wird frech und hält sich für radikaler als die Sex Pistols: Katie Melua übers Loslassen, Puppenstuben und die Freuden mörderischer Sinnlichkeit
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Das zahme Mädchen mit der Gitarre wird frech und hält sich für radikaler als die Sex Pistols: Katie Melua übers Loslassen, Puppenstuben und die Freude mörderischer Sinnlichkeit

Sie stammt aus Georgien, lebt in England und ist ein gesamteuropäischer Superstar. An ihre musikalischen Kaminzimmer-Heimeligkeiten hat man sich längst gewöhnt. Mit ihrem neuen Album „The House“ wagt sich Katie Melua aus der Kuschelecke heraus und verzückt mit den besten Madonna-Songs, die Madonna nie geschrieben hat. In ihrem selbst geschaffenen, neuen musikalischen Idiom darf die 25-Jährige endlich Pop sein, schräg sein, experimentieren und nach Bedarf ein Vierteljahrhundert Lebensweisheit bündeln.

AZ: Erinnern Sie sich noch an Ihre Träume mit 17?

KATIE MELUA: Ich wollte soviel wie möglich reisen. Nach Indien und zu allen exotischen Plätzen, die nicht vor meiner Haustür lagen. Nach sechs Jahren konstantem Reisen, um meine ersten drei Alben live zu präsentieren, wandelten sich meine Träume ins Gegenteil. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, und trat die Reise in mein Inneres an. Die dauerte über ein Jahr und das Resultat ist mein neues Album, „The House“.

Welche war die wichtigste Erkenntnis während Ihrer Reise zu sich selbst?

Das Loslassen von vermeintlichen Sicherheiten. Wir alle schaffen uns Plätze, in denen wir uns in Sicherheit wähnen, obwohl sie letztlich Gefängnisse sind, mit denen wir unseren Freiheitswunsch beschneiden. Jede Idylle birgt die Gefahr, dass sie zurückschlägt, wenn wir uns auf ihre Seite schlagen. Ich habe beschlossen, nicht mehr an dem festzuhalten, was mir Sicherheit gab, sondern mich allem Gegenüber zu öffnen.

Sind Sie damit dem braven Image des Mädchens mit der Gitarre entflohen?

Es ist keine Flucht, sondern die Suche nach einem anderen Ort. Als Teenie war ich regelrecht wütend, weil ich in den Neunzigerjahren groß wurde und nicht in den Sixties, als die Beatles und Dylan den Ton angaben. Meine Musik war bislang eine Reminiszenz an diese Zeiten. Damit ließ sich prima ein Image kreieren. Inzwischen habe ich begriffen, dass die Moderne in Verbindung mit der Vergangenheit den Weg in die Zukunft weißt. Auch davon handelt „The House“.

Wie sieht Ihr privates Haus aus?

Es befindet sich in einem Hinterhof eines Hauses in London, das an einer alleenartigen Straße liegt. Ich sammle Antiquitäten, Uhren, Spiegel und antike medizinische Utensilien, wie Einmachgläser, in denen sich seltsame Dinge befinden. Außerdem besitze ich eine viktorianische Puppenstube, für die ich mir gerade in Brüssel ein teures Frühstücks-Set kaufte. Mein liebstes Kunstwerk stammt aus dem 19. Jahrhundert. Es ist ein Nachtgewand, das an der Decke hängt und aussieht, als ob ein Kinderkörper darin stecke. Tatsächlich lässt es sich aber nach Bedarf öffnen und wird zum Schmetterling-Mobile. Und seit einem Jahr läuft ein kleiner Hund durch mein Haus.

Warum wollen Sie im ersten Song des neuen Albums einen Mann mit einem Kuss töten?

Der Song ist eine Reaktion darauf, verlassen worden zu sein, die Bestandsaufnahme des Moments, wenn man wirklich am Ende ist, sich ermordet fühlt. Ich wollte den Spieß umdrehen. Die einleuchtende Antwort war ein letzter Kuss. Ich habe keine tatsächlichen Mordfantasien, aber ich finde diese Form äußerst sinnlich.

Sind Sie exzentrisch?

Solange Sie unter Exzentrik die Abweichung von der Norm bezeichnen, können Sie mich gerne exzentrisch nennen. Allerdings nahm ich nie eine plakative Form der Antihaltung ein, sondern versuchte immer durch die Hintertür eine alternative Option zum Bestehenden zu sein. Möglicherweise bin ich radikaler als es die Sex Pistols jemals waren, weil ich nicht aus einem Image, sondern aus Substanz bestehe.

Kann Sinnlichkeit ein Gegenentwurf zu bestehenden Marktgesetzen sein?

Unbedingt. Sinnlichkeit, freie Sexualität und Liebe sind die letzten Bastionen der individuellen Anarchie, weil sie nicht vom Markt kontrolliert werden können. Ich bin überzeugt, dass Sinnlichkeit und Liebe etwas in uns wecken, das wir im täglichen Einerlei, im Kampf ums Überleben allmählich vergessen, obwohl es die einzigen Kräfte sind, die uns tatsächlich weiterbringen.

Woran glauben Sie?

Als erfolgreiche Künstlerin sollte ich an die Kraft des Geldes glauben. Aber ich glaube viel mehr, dass unser Wertesystem am Monetarismus erkrankt ist. Ich glaube an die Kraft der Empathie und der Liebe. Die Welt ist heute ein viel freierer Ort als vor 50 Jahren. Denken Sie nur an Frauenrechte, Schwulenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung.

Haben Sie die Suche nach sich selbst als Künstlerin inzwischen beendet?

Nein, aber ich habe festgestellt, dass das Finden nicht wichtig ist. Vor ein paar Jahren wollte ich unbedingt eine Selbstdefinition von mir finden. Inzwischen gefällt mir die Suche danach so gut, dass ich die Selbstdefinition nicht mehr finden will.

Für Ihr neues Album haben Sie mit dem Produzenten William Orbit gearbeitet, der Madonnas Karriere mit dem Album „Ray Of Light“ rettete. Was bedeutet Ihnen englische Queen Of Pop?

Ich respektiere sie und mag das „Ray Of Light"-Album ausgesprochen gerne. Meine Wahl fiel aber nicht auf William Orbit, weil er mit ihr zusammenarbeitete, sondern weil er meine Musik voranbrachte, ohne ihre akustische Substanz zu zerstören. Ich klinge immer noch wie Katie Melua, nur anders.

Michael Loesl

Die CD „The House“ bei Dramatico Entertainment. Am 29. und 31. Oktober 2010 gastiert Melia in der Philharmonie am Gasteig

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