Dem Todestrieb erotisch trotzen

„Poll“ von Chris Kraus mit Edgar Selge ist ein opulentes, vielschichtiges Werk, das meisterhaft entführt in eine abgründige bürgerliche Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs
von  Abendzeitung

„Poll“ von Chris Kraus mit Edgar Selge ist ein opulentes, vielschichtiges Werk, das meisterhaft entführt in eine abgründige bürgerliche Welt am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Haben Sie angewachsene Ohrläppchen oder zusammenwachsende Augenbrauen? Für den Kriminologen Lombroso (1835 - 1909) wäre damit klar: Sie haben Verbrechergene! Edgar Selge spielt in „Poll“ einen perversen Gutsbesitzer und Hobby-Forscher, der heimlich der russischen Armee getötete Anarchisten abkauft, um ihre Schädel und Hirne nach verbrecherischen Deformationen zu untersuchen. Seine Formaldehyd-Gläser mit den Präparaten füllen Grusel-Regale in seinem Scheunen-Laboratorium – ein verbotener Ort, an dem seine Backfisch-Tochter (Paula Beer) ein – erotisch-politisches – Geheimnis hütet.

Regisseur Chris Kraus (siehe Interview, Kino-Stadt) hat Fantastisches geschaffen: einen opulenten Historien-Film über den Vorabend des Ersten Weltkriegs, als das Deutschtum zum Feind im russischen Zarenreich wurde und die Balten guerilla-taktisch um Unabhängigkeit kämpfen. Das ist der bedrohliche Hintergrund einer Familiengeschichte, mit einem Gutsherren Ebbo von Siering, der sich gefühlsunfähig seiner Frau entfremdet, die den Verwalter zum Liebhaber hat.

Verquere Hirnforschung

Sublimiert werden die familiären und politisch-ethnischen Spannungen in sprachlos bürgerlicher Hausmusik. Ebbo verhärmt, hilflos aggressiv zieht er sich in die kontrollierbare Pathologie seiner verqueren, aber im Zeitgeist liegenden Hirnforschung zurück. Sie soll ihm Achtung bringen: ein packend-perverses Forscherdrama. Die Einzige, zu der Ebbo versucht, eine emotionale Beziehung aufzubauen, ist seine Tochter, die pubertierend die unglückliche Erwachsenenwelt als heuchlerisch erkennt, sich absondert und ein spielerisch-erotisches Abenteuer mit einem Fremden versucht zu erzwingen.

Kraus (von dem der sehr direkte Film „Vier Minuten“ stammt) hat sich in diesen vielen, auch subtilen Genre-Ansprüchen nicht verheddert. Und in der Fülle bleibt für jeden die Freiheit, seinen ganz eigenen Schwerpunkt zu erleben. So arbeitet der Kopf nach dem Kino weiter. Und die Fantasie bündelt alle Stränge in dem Bild von dieser merkwürdig romantisch-befremdenden, klassizistischen Villa, die auf Stelzen im baltischen Meer steht.

Adrian Prechtel

Kino: Atelier, Filmcasino, Rio; B&R: Chris Kraus (D, 133 Min.)

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