Das "Weihnachtsoratorium" mit dem Münchener Bach-Chor

Ein Schock", erzählt ein Zuschauer seiner Begleitung, sei es gewesen, als 2005 Hans-Jörg Albrecht den Bach-Chor übernommen hatte. Aber warum? Sicher, weil sich der Sachse völlig frei von der Tradition des Übervaters der Münchner Bachtradition, Karl Richter, fühlte und theatralisch intensiv alle musikalischen Spielarten in Bachs "Weihnachtsoratorium" (und der "Matthäuspassion") von barockem Bombast bis A- Cappella-Innigkeit auslotete. Ob jetzt der Wechsel zur neuen Leiterin Johanna Soller wieder ein "Schock" war?
Neues Klangbild: historische Aufführungspraxis ohne Dogmatismus
Schon optisch war in der vollen Isarphilharmonie auf der Bühne manches anders: Der Chor - verjüngt, aber mit 66 Sängerinnen und Sängern nicht verschlankt. Das Orchester: etwas kammermusikalisch verkleinert (und viel mehr Musikerinnen) und auf alten Instrumenten oder deren Nachbauten musizierend - also ein neues Klangbild: historische Aufführungspraxis ohne Dogmatismus, schlank, samtiger.
Dazu passten dann auch die Solisten, die alles Opernhafte vermieden, mit wenig Vibrato, wunderbar verständlich sangen. Die belgische Sopranistin Flore Van Meerssche gab Engeln und Botinnen strahlenden, nie überstrahlenden Glanz. Und ein "Wink" von Gottes Hand, der in der sechsten Kantate die "Feinde" in die Machtlosigkeit stürzt, war dann auch kein Karateschlag, sondern blieb in sich ruhend. Der Bass Johannes Kammler hatte ebenfalls keine Schwere, sondern erzählte freudig tänzerisch nicht nur vom "großen Herrn und starkem König", sondern ließ sich auch seine "finstre Seele" schön erleuchten.
Gibt es bei einer ausgewogenen Ensembleleistung einen Star?
Der eingesprungene Mezzosopranistin Laila Salome Fischer gelang Warmherzigkeit, nur in den tieferen Lagen ging sie im Orchesterklang verloren. Vielleicht wäre ein echter Alt hier besser besetzt gewesen. Wenn man aber in einer derartig ausgewogenen Ensembleleistung überhaupt von einem Star reden kann, war es der isländische Tenor Benedikt Kristjánson als Evangelist, der auch noch alle Tenorarien übernahm.
Einen schöneren musikalischen Erzähler der Weihnachtsgeschichte hat man selten gehört: niemals pathetisch, aber immer bewegt und bewegend - mit einer schönen, leichten Liedstimme, die auch halsbrecherische Koloraturen wunderbar unangestrengt aussingen kann. Dass er sich anfangs etwas Kraft sparte, ist bei der Doppelbelastung aus Erzählung und Arien gut nachvollziehbar. So ging er gegen Ende immer mehr ins befreite Risiko: "Nun mögt ihr stolzen Feinde schrecken…" Das geriet in kriegerischen Zeiten nicht zu einer Kampfansage, sondern zeigte die kraftvolle Selbstgewissheit - eines Glaubenden.
Der Chor ist verjüngt, das Orchester weiblicher
Und der verjüngte Chor? Den stellte Johanna Soller im leichten Bogen von links nach rechts von Sopran bis Bass auf und trennte so akustisch die Stimmen anstatt sie von vorne nach hinten in die Tiefe zu staffeln. So ergab sich ein schöner, Transparenz schaffender Stereoeffekt. Und das alles mit Präzession, Begeisterung und Stimmschönheit ausgestatteten Sängerinnen und Sängern.
So wurde das erste Weihnachtsoratorium unter Soller ein künstlerisches Fest ohne Showeffekte, ein Fest des kunstvoll Abgerundeten, eine Weihnachtsgeschichte der nahbaren Innigkeit. Und bestimmt kein Schock.