Das Verbrechen auf der Reise

Ein englisch-deutsch-estnisches Theaterprojekt: Sebastian Nübling inszeniert den Krimi „Three Kingdoms” von Simon Stephens. Die deutsche Uraufführung ist heute in den Kammerspielen
Michael Stadler |
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Ein englisch-deutsch-estnisches Theaterprojekt: Sebastian Nübling inszeniert Simon Stephens' „Three Kingdoms”. Die deutsche Uraufführung ist heute in den Kammerspielen

Logisch: Wenn ein Kopf vom Körper abgetrennt wird, verliert das Opfer sein Leben und damit seine Sprache. Dafür reden jetzt die anderen, die Polizisten, die Verdächtigen, die Drahtzieher, die hinter allem stecken. Und weil das Verbrechen heute wie alles globalisiert und unheimlich vernetzt ist, findet die Ermittlung in verschiedenen Sprachen statt. Übersetzung tut Not und auch der Transfer der Körper, die Reise in die Fremde.

Den Londoner Detective Ignatius Stone verschlägt es mit seinem Kollegen Charlie Lee in Simons Stephens’ dreisprachigem Stück „Three Kingdoms” nach Deutschland, dann nach Tallinn, auf der Suche nach dem Mörder einer Prostituierten, deren Kopf in einer Sporttasche am Themse-Ufer gefunden wurde. Auf der Odyssee der Polizisten rückt die Auflösung des Falls immer mehr in die Ferne: „Das Stück beginnt als gut geschriebener Krimi”, meint Regisseur Sebastian Nübling. „Dann verliert sich die Fragestellung ,Wer war’s?’ während der Reise, das Stück bekommt einen Erlebnischarakter, ein Geheimnis.”

Nübling hat bereits vier Stücke des Manchester Dramatikers Simon Stephens, einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Englands, auf die Bühne gebracht. Sie beide hätten, so Nübling, schon länger über eine deutsch-britische Koproduktion nachgedacht. Hinzu kam das Theater NO99 Tallinn, das die Inszenierungen Nüblings verfolgt hatte und mit ihm zusammenarbeiten wollte: „Simon hatte dann die Idee für das Stück”, erzählt Nübling. „Three Kingdoms” entstand als Auftragswerk für die Kammerspiele in Kooperation mit dem Theater N099 Tallinn und dem Lyric Hammersmith Theatre London, wo Simon Stephens als künstlerischer Berater arbeitet. Die Produktion selbst ist im Gleichschritt mit den Ermittlern Stone und Lee auf die Reise gegangen. „Wir probten zwei Wochen in England, waren dann drei Wochen in München, dann drei Wochen in Tallinn. Nach einer Pause waren dort die Endproben und die erste Uraufführung. Jetzt kommt die Premiere in München, im Mai in London.” Regie führte Nübling auf Englisch, als Übersetzer half ihm Eero Epner von NO99. Epner übernahm mit Julia Lochte von den Kammerspielen die Dramaturgie. Für Nübling geht es in dem Stück „um die Erfahrung des Fremden. Gerade in Estland kann man sich kaum orientieren, allein Finnen können Estnisch ansatzweise verstehen.”

In London wurden drei Schauspieler, Nick Tennant, Ferdy Roberts und Rupert Simonian, gecastet. Zu drei Schauspielern der Kammerspiele kamen noch Mitglieder des Ensembles aus Tallinn: „Wir von NO99 sind im Grunde wie die Kammerspiele, nur kleiner”, erzählt Eero Epner. „Unsere Stücke basieren immer auf einer Idee. Unsere zehn, elf Darsteller fangen dazu an zu improvisieren. Diese Produktion nun war auch für uns etwas Neues.” NO99 bemühe sich stark, in die Gesellschaft hineinzugehen: „Letztes Jahr haben wir eine Fake-Partei namens ,Unified Estonia’ gegründet. Die Öffentlichkeit hat das geglaubt, wir kandidierten und bekamen über 20 Prozent der Stimmen.” Das Interesse an Stadtprojekten verbindet N099 mit den Kammerspielen. Mit „Three Kingdoms” werden nun auch Ländergrenzen überschritten.

Simons’ Stück bedient und unterwandert dabei gängige Klischeevorstellungen, die die Nationen jeweils von den anderen haben. Der deutsche Polizist Steffen Dressner, gespielt von Steven Scharf, arbeitet natürlich 24 Stunden am Tag. Gleichzeitig steht der fleißige Deutsche mit einem Bein im Rotlichtmilieu. Und der britische Detective Charlie interessiert sich gar nicht für Fußball. „Das Stück jongliert mit Stereotypen”, stellt Nübling fest. „Klischees sind hier wie eine Jacke, die man anziehen und wieder ausziehen kann.” Das Bühnenbild sei einheitlich, die Szenenwechsel ergeben sich wie von selbst durch den Wechsel der Sprachen: In London wird englisch, in Deutschland deutsch und in Tallinn estnisch gesprochen. „Die drei Königreiche sind für mich die drei Sprachgebilde. Jede Sprache hat einen körperlich-sinnlichen Aspekt, insofern ist die Kultur sofort da, wenn jemand in seiner Muttersprache spricht. Das Spannende an dem Stück ist ja, dass alle permanent übersetzen. Ein Gedanke in Deutsch wird auf Englisch übersetzt, ein Este nimmt ihn in Englisch auf und muss ihn zurückübersetzen.”

Im Gewirr der Übermittlungen entstehen in Stephens’ Stück Momente der Komik, gleichzeitig wird die Handlung immer nebulöser, bis das Stück in einen Albtraum im Stile von David Lynch abdriftet. Weniger das Rätsel löst sich auf, sondern moralische Gewissheiten und Identitäten. Sprachprobleme fürs Publikum soll es aber nicht geben: Übertitelungen bei den rein fremdsprachlichen Passagen sollen für durchgehendes Verständnis sorgen. Damit der Zuschauer nicht den Kopf verliert.

 

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