Das Schwarzbuch des Menschenhandels

Michael Jürgs blickt in seinem neuen Buch fassungslos auf den „Sklavenmarkt Europa“
von  Volker Isfort

Regisseur Steve McQueen widmete im Februar seinen Oscar (für „Twelve Years a Slave“) den über 20 Millionen Menschen, die auch aktuell als Sklaven arbeiten. Zuletzt schockten die Bilder der nepalesischen Bauarbeiter an den WM-Stadien in Katar. Doch so weit muss man nicht blicken, das Problem beginnt unmittelbar vor der Haustür. Der Journalist Michael Jürgs hat nun ein Buch über den „Sklavenmarkt Europa“ geschrieben. Denn mit der „Ware Mensch“ werden hier illegal 15 Milliarden Euro umgesetzt – jedes Jahr. 

AZ: Herr Jürgs, das Thema ist teilweise bekannt – aber nie zuvor so umfassend dargestellt worden.

MICHAEL JÜRGS: Es gibt Protokolle von Einzelschicksalen, aber ich wollte eine Gesamtdarstellung, weil ich die Dimension des Elends anfangs selbst nicht glauben konnte. 15 Milliarden Euro Jahresumsatz europaweit, das ist die zweithöchste Einnahme des organisierten Verbrechens nach dem Drogenhandel.

Bei Ihren Recherchen blieben Sie immer auf der Ermittlerseite. Das ist auch das Problem der Polizei.

Man kann sich nicht von außen in diese ethnischen Banden aus Rumänien, Albanien, Moldawien oder Bulgarien einschleusen. Aber ich konnte dennoch viel Selbsterlebtes einbauen, Gespräche mit Frontex, Scotland Yard, eine Razzia der Bundespolizei gegen einen Menschenhändler, eine Strategiesitzung bei Europol, da kommt man auch nicht so ohne Weiteres hin.

Was macht Menschenhandel in Europa für das organisierte Verbrechen so attraktiv?

Zynisch gesprochen gibt es eine simple Logik: Drogen kann man nur einmal verkaufen, Frauen viel häufiger. Wir sprechen von 15 Milliarden Euro jährlich, bei einer Umsatzrendite zwischen 60 und 70 Prozent. Zwei Drittel der Gewinne resultieren aus dem Handel mit Frauen, meist für die Prostitution, es folgt die Zwangsarbeit, dann der Kinderhandel, dann der Organhandel.

Der Kampf der Behörden scheint – wie Sie ihn schildern – relativ aussichtslos.

Die Bundespolizei bräuchte viel mehr Geld für Dolmetscher, viel dringender als für irgendwelche Überwachungsmöglichkeiten, die es grundsätzlich ja gibt. Für die von mir beschriebene Razzia bei einem jesidischen Menschenhändler haben allein die übersetzten Protokolle der abgehörten Telefonate zur Vorbereitung des Einsatzes 100000 Euro gekostet. Es gibt natürlich Staatsanwälte die sagen: „Können wir nicht einfachere Fälle lösen, wo wir schneller Erfolgsmeldungen haben?“

Sie werfen der deutschen Politik vor, nicht genug zu tun.

Die Bundespolizei braucht die legale Möglichkeit der Vorratsdatenspeicherung. Wenn sie die nicht hat, kann sie nicht per Kreditkarte der Spur des Geldes folgen. Ich bin also eingeschränkt für die Vorratsdatenspeicherung, solange sie nur auf richterlichen Beschluss und gegen das organisierte Verbrechen eingesetzt wird. Auch Vermögen zu beschlagnahmen wäre eine gute Idee. In Italien müssen die Täter beweisen, dass ihr Vermögen legal erworben ist. Bei uns muss der Staat beweisen, dass das Geld illegal erworben ist. Das ist ein riesiger Unterschied.

Ein Großteil des Geldes wird mit Prostitution verdient – es gibt Schätzungen, dass in Deutschland allein über 100000 Zwangsprostituierte arbeiten, viele aus Osteuropa.

Mir kommt die Galle hoch, wenn ich sehe, wie die Großbordelliers sich in Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen präsentieren und einen auf netten Bürger machen und dann Flatrates in ihren Bordellen anbieten. Ich habe in meinem Buch über eine rumänische Kleinstadt bei Bukarest geschrieben, dort sind in einem einzigen Jahr 1007 Kinder verschwunden, es gibt dort praktisch keine jungen Mädchen mehr. Ich führe das Beispiel an von einem 14-jährigen Mädchen, das auf dem Schulweg entführt wird und in einem Bordell im Ausland landet. Als sie durch Zufall entdeckt und zur Familie zurückgebracht wird, verstößt ihre Familie sie.

Warum folgt Deutschland nicht dem schwedischen Modell, dort werden die Freier bestraft?

Weil es nichts bringt, das sagt nach über zehnjähriger Erfahrung auch die schwedische Polizei. Wenn das ganze Modell komplett in die Illegalität gedrängt wird, kann die Polizei überhaupt keine Frauen mehr schützen. Mir ist das dänische Modell lieber, dort müssen Prostituierte nachweisen, dass sie noch einem anderen Beruf nachgehen. Wir brauchen Gesetzesänderungen: das Verbot von Flatrates.

Die sind doch verboten.

Nein, das steht zwar im Koalitionsvertrag, aber geschehen ist bislang nichts. Wir bräuchten auch die Heraufsetzung des Mindestalters auf 21 Jahre, was schwierig ist, weil viele Papiere einfach gefälscht werden. Und wir benötigen ein dauerhaftes Bleiberecht und Zeugenschutzprogramm für die Frauen, die sich vor Gericht trauen, gegen ihre Peiniger auszusagen.

Das Grundproblem hinter allem ist die riesige ökonomische Ungleichheit in Europa.

Natürlich. Länder wie Transnistrien oder Moldawien haben nicht die geringste Chance, aus sich selbst heraus Zivilgesellschaften aufzubauen. Aber wir müssen das Ganze global sehen: Die größten Sauereien geschehen dort, wo die Not am größten ist, derzeit also in den syrischen Flüchtlingslagern. Dort werden Jungfrauen gnadenlos von arabischen Zuhältern gejagt für den Markt in Saudi-Arabien.

Und in den Lagern blüht der Organhandel.

Menschen werden dreitausend Euro für eine Niere versprochen, die dann für zweihundertfünfzigtausend verkauft wird. Organhandel wird immer schlimmer, das ist das größte Dunkelfeld – und immer wirken Ärzte mit, die den Eid des Hippokrates geschworen haben, sonst funktioniert das nicht. Glauben Sie, dass auch in Deutschland solche Organe genutzt werden? Selbstverständlich, dafür müssen Sie heute nicht mehr an die Ränder Europas reisen.

Michael Jürgs: „Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch“ (C. Bertelsmann, 352 Seiten, 19.99 Euro)

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