Das schillernde Chamäleon Wahrheit

Kein Skandal - nur grandioses Theater: Die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)" in den Kammerspielen, inszeniert von Jossi Wieler.
von  Abendzeitung

Kein Skandal - nur grandioses Theater: Die Uraufführung von Elfriede Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)" in den Kammerspielen, inszeniert von Jossi Wieler.

Erst ist sie nur eine halbnackte Schnepfe. Dann verschwimmt die Schauspielerin Katja Bürkle dank ihrer nach hinten gekämmten Stirntolle im Trenchcoat mit der Literaturobelpreisträgerin: Sie spricht einen zweideutigen Hymnus auf ihr Heimatland, das ihr gleichgültig geworden ist und sie dennoch nicht loslässt.

Wieso Elfriede Jelinek vor Österreich graust, wird in ihrem neuen Theatertext unmißverständlich. „Rechnitz (Der Würgeengel)“ wühlt in einer schwärenden Wunde: In der Nacht auf Palmsonntag wurden bei einer Nazi-Party auf einem Schloss der Familie Thyssen Gewehre verteilt. Die Gäste erschossen fast 200 jüdische Zwangsarbeiter. In der Nachkriegszeit wurde die Tat nach Landessitte geschwätzig beschwiegen, so dass das Massengrab bis heute nicht wiedergefunden wurde.

Wie Hildegard Schmahl Pizza isst

Jelinek hat kein Drama geschrieben, sondern dem Theater ein hundertseitig ins Tausendste mändernden Gedankenstrom hingeschleudert. Jossi Wieler, der 1994 mit seiner Inszenierung von "Wolken.Heim" die Texte der Autorin für die Bühne durchsetzte, hat ihn einfühlsam auf zwei Stunden gekürzt. Weil das Grauen nicht auf die Bühne zu bringen ist und die Autorin nachahmende Schauspielerei sowieso verachtet, berichten fünf Boten in antiker Manier.

Zu Beginn sind sie den Tätern zum Verwechseln ähnlich. Zu verpopten Weisen aus dem „Freischütz“ tänzelt das Quinett in Gesellschaftskleidung durch den von der Bühnenbildnerin Anja Rabes braun getäfelten Schießstand. Zur Verpflegung wird Pizza in Schachteln mit roten Reichsadlern und SS-Runen angeliefert. Hildegard Schmahl lässt als eisblonde Nazi-Witwe so widerlich ein Stück Salami fallen, dass sich zu ihrem Umgang mit Menschen jede weitere Deutlichkeit erübrigt: Wer so mit Essen umgeht, bringt zum Spaß Juden um.

Grandioses Schauspielertheater

Mit uralten Floskeln wie „Wir haben auch gelitten“ schmeicheln sich die Boten beim Publikum ein. Aber in Wielers Inszenierung gleiten die Zeichen. Nichts wird fassbar, mit der Zeit verflüchtigen sich Wahrheit und Erinnerung. Mit einer assoziativen Volte, die Jelineks Sprachespiele ins Bild übersetzt, verwandeln sich die Boten zuletzt in die angeblich unbeteiligten Dienstboten der in Richtung Südamerika und Schweiz entschwundenen Täter. Sie schmücken das Massaker mit Gerüchten weiter aus wie der zwielichtige David R. L. Litchfield, dessen Sex & Crime-Tratsch zur Gräfin Thyssen 2007 in der Frankfurter Allgemeinen zu lesen war.

Das Chamäleon der Wahrheit bleibt auf der Bühne keine postmoderne Theorie. Die Schauspieler changieren kunstvoll zwischen widersprüchlichen Charaktermasken. Hans Kremer und Steven Scharf erzählen mit zynischer Kälte von der Jagd auf von der Zwangsarbeit gezeichnete Opfer. Katja Birkle zwingt eine lustwillige Partymaus mit dem alttestamentarischen Würgeengel und der Autorin zu einer höheren Einheit zusammen. Die aristokratische Hildegard Schmahl steht plötzlich als gräfliche Putzfrau da. André Jung schwadroniert als zerstreuter Professor vom Schlussstrich der Erinnerung und preist als Provinz-Bauunternehmer die Vorzüge von Kiesgruben in Hosenträgern, ehe er nicht weniger überzeugend den Gärtner verkörpert.

Die "Bakchen" als Sub-Text

Natürlich lässt sich die Jelinek allerlei mythische Bezüge nicht entgehen. Bei einem Massaker in der Osterzeit assoziiert sie unweigerlich die blutigen Ursprünge des jüdischen Passah-Fests und endet bei den „Bakchen“, die Jossi Wieler mit Schmahl, Jung und Kremer 2005 an den Kammerspielen inszenierte. Die mittels Pelzmänteln und ein Mänadenmahl mit Hühnerbeinen herbeigeführte Selbstbezüglichkeit sorgt nicht für weitere Verwirrung, sondern trägt zur Klärung bei.

Weil sich der Text schwarz kalauernd vom Werbe- zum Menschenmaterial und ähnlichem verhaspelt, blitzten viele Lacher durch die tragische Finsternis. Aber sie blieben im Halse stecken. Und weil eine Doppelgängerin der Autorin über die Bühne geisterte, fiel beim die widerspruchslosen Schlussapplaus ihr rituelles Fehlen niemanden auf.

Robert Braunmüller

Wieder am 1., 5. und 13. Dezember. Karten unter 54 81 81 81

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