Das Orchester als Lebenshilfe
Es ist nicht unproblematisch, wenn junge deutsche Musiker bei einem Austauschprojekt in Caracas bunte Jacken mit der Nationalflagge von Venezuela tragen. Denn seitdem Hugo Chávez 1998 zum Präsidenten von Venezuela gewählt wurde, herrscht ein Marxismus-Leninismus. Fast alles wurde verstaatlicht, es wird autoritär regiert. „Hier ist schon alles nationalistisch“, sagt Benedikt Büscher. „Aber wir hatten ja auch den Musikern aus Venezuela Deutschland-Bänder überreicht. Klar, die sind etwas dezenter und kleiner. Wir haben uns aber sehr über die Jacken gefreut. Es war eine nette Geste, und es war ja auch nur bei der Zugabe im Konzert.“
Büscher ist 19 Jahre jung, kommt aus München und spielt Kontrabass. Er war mit dabei, als das Bundesjugendorchester (BJO) Mitte August nach Caracas reiste. Dort kooperierte das BJO mit dem Jugendorchester Teresa Carreño (TC). Das TC wurde 2007 gegründet, beim Beethovenfest in Bonn hatte es 2010 sein Europa-Debüt. Auch hinter diesem Orchester steht „El Sistema“: Diese staatliche Stiftung, die vor 36 Jahren von José Antonio Abreu gegründet wurde, vereint Musikschulen und Sinfonieorchester in ganz Venezuela. Weil nicht zuletzt Kindern und Jugendlichen aus den Armenvierteln durch Musik eine Perspektive geschenkt wird, hat sich „El Sistema“ weltweit zu einem Vorbild für Musikvermittlung gemausert.
Auch das Simón Bolívar Jugendorchester, das unter Gustavo Dudamel weltberühmt wurde, gehört zu „El Sistema“. Schon 2006 hatte das BJO mit „El Sistema“ kooperiert. Diesmal standen die Konzerte im Zeichen der Erinnerung an die ersten Unabhängigkeitskämpfe vor 200 Jahren in Südamerika. Höhepunkt war das gemeinsame Musizieren des deutschen und venezolanischen Nachwuchses, womit interkulturelle Brücken geschlagen werden sollten. Doch es gab einige Haken: Mit Arturo Márquez, Gonzalo Grau und Alberto Ginastera war das gemeinsame Musizieren eher südamerikanisch gefärbt.
Zudem zeigten die Proben, wie anders die musikalischen Mentalitäten sind. Lauter und doller, das war die Devise der Musiker aus Caracas. Das kennt man auch so vom Bolívar-Orchester mit seinem charismatischen Chef Dudamel. Einer differenzierten Ausgestaltung von Klang, Dynamik und Ausdruck, wie dies gerade beim BJO gepflegt wird, lauschte man vergeblich. „Wir haben sicher nicht Differenzierung gelernt“, räumt Büscher ein, „aber das war auch nicht der Sinn. Da ist man in Deutschland viel weiter. Die Offenheit, Begeisterung und Spielfreude – das können wir aber lernen.“
Im Mittelpunkt habe das Soziale gestanden: „Viele Musiker, mit denen wir gespielt haben, wären vielleicht auf der Straße gelandet, würden nicht mehr leben. Mit ,El Sistema’ leben sie. Die Menschen hier sind unglaublich nett. Das würde man nicht unbedingt erwarten – weil das Leben hier so gefährlich ist.“ Tatsächlich gilt Caracas als Welthauptstadt, wenn es um Tötungsdelikte geht. Die sozialen Gegensätze sind hier besonders krass. Raubmord, Drogen, korrupte Beamte, Entführungen: Die Reisehinweise des Auswärtigen Amts lesen sich wie ein Horrorroman.
„Caracas ist ein Tal aus Hochhäusern“, so Büscher. „An den Berghängen kleben die Armenviertel. Es herrscht ein Verkehrschaos. Schön ist das nicht, einer sagte: Caracas ist wie Chicago, aber eben heruntergekommen.“ Deswegen war dieses Austauschprojekt so wichtig. Das Auswärtige Amt sah es allerdings anders: Statt den vom BJO beantragten 200 000 Euro hat es nur 50000 Euro beigesteuert. Man müsse sparen, hieß es. Dabei hat dieses Projekt auch gezeigt, dass sich der deutsche Musikernachwuchs wahrlich nicht zu verstecken braucht. Im Gegenteil: Das musikalische Niveau sucht seinesgleichen, das wussten gerade auch die venezolanischen Musiker zu schätzen. Leider gastiert das BJO viel zu selten in München.