Das offene Ich

Nach über 20 Jahren ist das Werk Egon Schieles wieder in München zu sehen. Das Besondere: Im Kunstbau des Lenbachhauses wird der Expressionist endlich auch aus dem Kontext seiner Zeit gedeutet
von  Christa Sigg

Abgründe tun sich auf in diesem bleichen Gesichtchen. Wie durch eine Überdosis Tollkirschen sind die Pupillen geweitet, dazu der geöffnete Mund im selben Rot wie die Schamlippen. Ein nacktes kleines Mädchen, nur in ein ockerfarbiges Tuch gehüllt, starrt auf den Betrachter – in der frontalen Madonnenhaftigkeit wie eine Ikone und zugleich voller Angst. Solche Bilder sind heute fast gewagter als vor hundert Jahren, vermitteln ein eigentümliches Gefühl der Beklommenheit. Und Egon Schiele, von dem jetzt herausragende Grafik aus der Wiener Albertina im Kunstbau des Lenbachhauses zu sehen ist, hat seine Provokationen teuer bezahlt: 1912 saß er 24 Tage im Gefängnis, an einer Minderjährigen soll er sich vergriffen haben.

"Unsittliche Zeichnungen"

Der Vorwurf war nicht haltbar und geistert doch bis heute durch die Köpfe. Geahndet wurden allerdings die „unsittlichen Zeichnungen”, und da hatten die Moralwächter leichtes Spiel. Denn Schiele zeigt nicht nur Nackte in allen denkbaren Verrenkungen, inklusive lesbischer Liebesakte, sondern immer wieder sich selbst beim Onanieren – das galt um 1900 als Resultat und Ursache geistiger Erkrankung. Die sexuelle Drastik, gepaart mit einer schmerzverzerrt kruden Leiblichkeit erinnert zuweilen an Matthias Grünewald. Und wenn Schiele gespreizte Beine, Brustwarzen, die Vulva zeichnet und mit fleischigem Rot versieht, ist die erotische Anzüglichkeit merkwürdig fern. Diese Sexualität tut weh, greint aus dürren, ausgemergelten Leibern. Das hat nichts von der saftigen Erotik japanischer Koitus-Grafik, die Schiele wie viele seiner Künstlerkollegen besaß. Vielmehr ging es um eine problembelastete Sexualität. Und noch bei den Mädchenakten reagiert er auf Strömungen um die Jahrhundertwende, indem er ein vor allem durch Freud angestoßenes Interesse an der aufkeimenden Libido von Kindern aufgreift.

Überhaupt gelingt es Kuratorin Helena Pereña und ihren Kollegen, diesen Egon Schiele endlich einzubetten in eine Zeit, die geprägt ist vom Untergang des k.u.k.-Reichs. Auf dem Papier landet natürlich auch die Krise, in die das Subjekt nach der Industriellen Revolution gerutscht ist. Die Welt, dieser fein eingeräumte Setzkasten, wankt beträchtlich. So, wie jetzt die Kunst aus dem Rahmen kippt. Wo ist oben, wo unten? Und wenn alles aus den Fugen gerät, dann auch der Charakter der Dinge? Mehr noch: das Ego!

Schiele wollte zum Blauen Reiter

Männer tragen Frauenkleider, die Gesichter sind oft androgyn. Das Ich ist offen, „unrettbar”, wie es im Untertitel der Ausstellung heißt, angelehnt an den Kritiker Hermann Bahr. Der „Cellist”, gleich neben einem Akt, der auf dem Kopf steht, hat weder Instrument noch Stuhl, formt lediglich Arme und Hände zum Spiel. Schieles Weiber, seine Paare, die sich eng umklammern, als wollten sie der Verlorenheit entgehen, schweben im leeren Raum, ohne Kontext.

Den liefern auf einer ganz anderen Ebene die Gedichte des Malers (die einer eingehenden Erforschung harren). Auf Stellwänden sind sie in der typischen Versal-Schrift Schieles zu lesen. Und mit der geometrischen Schwarz-Weiß-Ornamentik des Gropius-Mitarbeiters Adolf Meyer ist zudem ein Spur „Eleganz nach 1900” in den kahlen Betonbunker gezogen. So wird Schieles Werk dezent eingesäumt vom Design der Zeit.

Der vermeintliche Einzelgänger suchte eh immer Anschluss. Zu gerne wäre er Mitglied des Blauen Reiters geworden. Doch die Münchner Expressionisten konnten mit der schonungslosen Seelenfledderei des Zwangs-Wieners nichts anfangen. Just in der Kunsthandlung Goltz, wo Marc und Co. ihre Plattform hatten, bekam Schiele 1912 seine erste Einzelausstellung außerhalb Österreichs. Skandal inklusive: Kardinal und Nonne hatte er gemalt, eng umschlungen. Verbotene Liebe. Und schlimmer vielleicht als Mädchenakte.

Bis 4. März 2012 im Kunstbau des Lenbachhauses, Katalog (Wienand Verlag) im Museum 32 Euro

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