Das kleine Mädchen und die alte Frau

Mit ihrem zweiten Album ist Melody Gardot auf Deutschlandtournee. Vor ihrem München-Konzert sprach die 25-Jährige mit uns über Musik als Lebensretter und ihre Vorliebe für „motionless sound“
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Mit ihrem zweiten Album ist Melody Gardot auf Deutschlandtournee. Vor ihrem München-Konzert sprach die 25-Jährige mit uns über Musik als Lebensretter und ihre Vorliebe für „motionless sound“

Sie ist bekannt für ihre Jazz- und Blues-Arrangements, die sie mit zarter und doch kehliger Stimme vorträgt. Am Wochenende ist sie mit dem aktuellen Album „My One and Only Thrill“ im Circus Krone zu Gast.

AZ: Miss Gardot, bei Ihrem letzten Konzert in München haben Sie sich auf der Gitarre verspielt. Ihr Kommentar dazu klang sehr deutsch.

MELODY GARDOT: Habe ich „scheiße“ gesagt?

Genau.

Ich liebe eben Sprache. Sprache ist etwas Musikalisches. Wenn ich auf Tour bin, versuche ich immer, etwas aufzuschnappen. Mittlerweile kann ich in sieben oder acht Sprachen ein bisschen was sagen.

Nach Ihrem schweren Unfall mit 19 konnten Sie nicht einmal mehr Englisch reden.

Wenn man ein so schlimmes Schädelhirntrauma abbekommt wie ich, macht es schnipp schnapp und wichtige Verbindungen im Gehirn sind gekappt. Bei mir waren vor allem das Sprechen und das Gedächtnis betroffen.

Wie fühlt sich das an?

Der Tag besteht eigentlich nur noch daraus, dass er sich langsam, aber sicher auflöst. Ich wusste am Nachmittag nicht mehr, was ich am Morgen getan hatte. Duschen dauerte anderthalb Stunden. Für’s Zähneputzen musste ich mir Post-it-Zettel an den Spiegel kleben.

Wie kam die Musiktherapie in Spiel?

Ein Arzt hatte mitbekommen, dass ich vor dem Unfall Klavier gespielt hatte. Er schlug vor, dass ich wieder Musik mache. Weil Musik eine der wenigen Aktivitäten ist, durch die sich gekappte Verbindungen zwischen rechter und linker Gehirnhälfte wiederherstellen lassen. Also habe ich auf dem Rücken liegend Gitarre gelernt, für mich ein ganz neues Instrument. Mit dem Singen habe ich nur angefangen, weil ich mir das, was ich gespielt und gesungen hatte, besser merken konnte.

In Interviews reden Sie sehr offen über Ihren Unfall und Ihre Genesung. In Konzerten dagegen kaum. Weshalb?

Weil ein Konzert keine Gesprächsrunde sein sollte. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann doch nicht, um zu erklären, wie ich zur Musik gekommen bin. Wenn überhaupt, dann sollen meine Songs diese Geschichte erzählen.

Eigene Songs schreiben Sie erst seit Ihrem Unfall.

Ich glaube, vor dem Unfall hatte ich nichts zu sagen. Was ich seitdem erlebt habe, fühlt sich dagegen an, als ob es für fünf Leben reicht. Deswegen komme ich mir oft sehr alt vor. Und genau so oft fühle ich mich ganz, ganz jung und hilfsbedürftig. Mein Leben pendelt zwischen den Erfahrungen einer alten Frau und denen eines fünfjährigen Mädchens.

Stimmt es, dass Sie Ihre Songs in 20 Minuten komponieren?

So lange dauert es, bis ich das, was ich in meinem Kopf höre, eingefangen habe. Wenn mir ein Song einfällt, dann meistens als Ganzes. Ich muss mich nur schnell genug hinsetzen und das, was ich höre, einfangen. Eine Songidee kann so flüchtig sein wie ein Traum.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie ein Fan von „motionless sound“ seien. Sind Ihre Songs deswegen so langsam?

Nein, damit habe ich etwas Anderes gemeint: Man türmt etwas auf, was sich eigentlich nicht von der Stelle bewegt. Bei „Rain“ machen wir das zu Beginn des Stückes – live noch viel mehr als auf dem Album. Da pulsieren wir eigentlich nur auf der Eins. Der Song bewegt sich nicht wirklich fort, er dehnt sich aus. Er schwebt wie eine Wolke.

Aber Sie haben eine Schwäche für langsame Tempi.

Stimmt. Bei „Deep Within The Corners Of My Mind“ wollte ich herausfinden, wie langsam man einen Song machen kann, bevor er auseinander fällt.

Dieser Song hört sich fast wie eine Rezitation an.

Ich liebe es, mit der Phrasierung zu spielen, auszuprobieren, wie lange man einen Satz oder ein Wort dehnen kann.

Hängt die Unverwechselbarkeit einer Sängerin von ihrer Phrasierung ab?

Ich glaube, dass sie vor allem davon abhängt, mit welchen Klangfarben man malt. Irgendjemand hat einmal gesagt, dass Musik, die nicht malt, auch nichts taugt.

Claus Lochbihler

Circus Krone, Samstag 20 Uhr

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