Das geteilte Kopfkissen

Zwischen Einsam- und Gemeinsamkeit, zwischen Vogelinsel und Festland: Der Erzähler Siegfried Lenz schildert in seinem neuen Roman „Schweigeminute“ eine junge Liebe.
von  Abendzeitung

Zwischen Einsam- und Gemeinsamkeit, zwischen Vogelinsel und Festland: Der Erzähler Siegfried Lenz schildert in seinem neuen Roman „Schweigeminute“ eine junge Liebe.

Mit seinen 82 Jahren ist Siegfried Lenz der dienstälteste aktive deutsche Autor, und da ihm im Gegensatz zu seinen ein Jahr jüngeren Kollegen Günter Grass und Martin Walser jeder Geltungsdrang fehlt, er bescheiden, uneitel, anständig und skandalfrei ist, genießt Lenz die größte Sympathie. Oft stimmten die Kritiker gegen ihn, dafür haben aber die Leser jedes neue Buch des in Hamburg heimisch gewordenen Ostpreußen dankbar angenommen.

Überraschend bei der Bandbreite seines Werks: Um die Darstellung des Erotischen hat sich Siegfried Lenz stets gedrückt – auch in seinem neuen Buch „Schweigeminute", in dessen Mittelpunkt das Verhältnis eines jungen Mannes zu einer älteren Frau steht. Hier müsste es vor Begierde knistern, doch der Leser kriegt höchstens ein „geteiltes Kopfkissen“ geliefert. Und wenn es ganz heiß hergeht, liest sich das so: „Ich streifte ihren Badeanzug ab, und sie ließ es geschehen, sie half mir dabei, und wir liebten uns dort in der Mulde bei den Kiefern.“

Dafür gelingt dem Autor wieder einmal das Kunststück, mit genau gesetzten Andeutungen das komplizierte Gefühlsleben seiner Figuren und die Fragwürdigkeit des Schicksals darzustellen. Viel Zeit für die Liebe hat Lenz seinen Protagonisten diesmal ohnehin nicht eingeräumt: Als wir den 18-jährigen Ich-Erzähler Christian kennenlernen, ist Stella Petersen, seine Englischlehrerin, schon tot – verunglückt bei einem Schiffsausflug. Zum Auftakt haben sich die Schüler und Lehrer des Lessing-Gymnasiums in der Aula versammelt, um Abschied von der allseits beliebten Lehrerin zu nehmen.

Christians gedämpfte Stimmung in der Trauerstunde wird immer wieder durch Rückblenden in die unbeschwerten Ferientage aufgehoben, als die Liebe seines jungen Lebens aufflammte. Ein Ereignis, „das so unvermutet begonnen hatte und wie von selbst nach Dauer verlangte“. Und Christian erinnert sich an die privaten Englischstunden, die er in Sachen Orwells „Farm der Tiere“ bekommen hatte.

Doch davor gab es das traditionelle Sommerfest, Mußestunden am Strand, ein „geteiltes Kopfkissen“ im Hotel „Seeblick“, Ausflüge aufs Meer hinaus, kulinarische Gelage mit Hering in zwölf Variationen.

Passend zum permanenten Szenenwechsel ist der Sprung vom indirekten Bericht zur direkten Ansprache: „Sie war nicht erstaunt, sie versteifte sich nicht, in ihren sehr hellen Augen lag ein träumerischer Ausdruck, vielleicht war es auch nur Müdigkeit, du neigtest mir dein Gesicht zu, Stella, und ich küsste dich.“

Treu geblieben ist Siegfried Lenz der maritimen Kulisse, die sein Werk von „Der Mann im Strom“ über die „Deutschstunde“ bis zu den Erzählungen „Jütländische Kaffeetafeln“ durchzieht. Hier heißt der fiktive Ort an der schleswig-holsteinischen Küste Hirtshafen, und die Geschichte spielt zu einer Zeit, als noch mit D-Mark gezahlt wurde – und die Leute ständig und überall rauchten.

Selbstverständlich verwendet Lenz die alte Rechtschreibung und gewährt zudem einigen alten, teils regional gefärbten Wörtern wie Zudeck (für Bettdecke), Quarta (dritte Klasse im Gymnasium) oder Takelbluse (Seemannsjacke) eine Existenzverlängerung. Und doch entfaltet „Schweigeminute“ eine flirrende Spannung, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszilliert, zwischen Glück und Trauer, zwischen Einsam- und Gemeinsamkeit, zwischen einer Vogelinsel und dem Festland.

„Schweigeminute“ endet mit Stellas Seebestattung. Christians Gedanken dazu: „In diesem Augenblick wußte ich, daß diese treibenden Blumen für immer zu meinem Unglück gehören würden und daß ich niemals würde vergessen können, wie tröstlich sie meinen Verlust bebilderten.“

Zum Vorabdruck der Novelle in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb Marcel Reich-Ranicki: „Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken. Vielleicht ist es sein schönstes.“ Diese Worte werden Grass und Walser mit Neid gelesen haben. Aber sie treffen zu.

Reinhard Helling

Siegfried Lenz: „Schweigeminute“ (Hoffmann und Campe, 128 Seiten, 15.95 Euro)

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