Cannes: Hoher Frauenverschleiß
Lars von Trier bringt in Cannes mit seinem Film „Antichrist“ die Kritiker erwartungsgemäß auf die Palme, Sozialkomödiant Ken Loach besänftigt alle
Ein Aufjaulen im Kritikerpublikum, dann ein kurzes hysterisches Lachen, diese unpassende Entladung, wenn das, was man auf der Leinwand sehen muss, zuviel für die Nerven wird. Gerade hat sich Charlotte Gainsbourg mit einer Schere in Großaufnahmen zwischen den Beinen selbst beschnitten.
„Antichrist“ ist Lars von Triers Festival-Schocker. Und als am Ende ein Buh-Gewitter gegen verstörten Applaus aufbrandet, ist klar: Die meisten haben den Film nicht verstanden oder verstehen wollen, weil er das ist, was von Trier oft bietet: radikale Verstörung. Alles ist in diesen Psychothriller, der zum Horror-Film mutiert gepackt. Aber wer sich auf diese gut hundert Minuten einlässt und nachdenkt, kommt Großem auf die Spur: einem Diskurs über männliche vernünftige, zivilisierte Dominanz über archaisch weibliche Natur, die durch Gainsbourg mythische Rache für Jahrhunderte tödlichen sadistischen Hexenwahn nimmt. Gleichzeitig gibt es zum Ärger von Feministinnen eine große Portion weiblichen Selbsthasses zu sehen.
Bei diesen Zumutungen gerät die Pressekonferenz zum Scherbengericht: „Rechtfertigen Sie sich!“, blafft der Vertreter des „Boston Harold“ den konzentriert lächelnden Trier an. „Ich muss mich nicht rechtfertigen. Ich habe den Film nicht für Sie gemacht“, entgegnet Lars von Trier fast abwesend ruhig. Charlotte Gainsbourg ist die nächste Schauspielerin (nach Björk und Nicole Kidman), die er verschlissen hat: „Es war ein befremdendes Vergnügen mit Lars von Trier zu drehen“, haucht sie blass piepsend ins Mikro: „Ich würde es nicht noch einmal machen.“
Bilderstarke Neurosen
Lars von Trier hat nach Depressionen seine Isolation durchbrochen, einen harten,tiefen, verrätselten Film gedreht mit traumhaften Märchensymbolen und Gewalt. Dabei ist ihm wieder eine unvergessliche Bilderstärke gelungen, beginnend schon mit schwarzweißem Zeitlupensex und hineingeschnittenen Szenen des Kindesunfalls zu Händel-Musik.
Zum Festival wohnt von Trier – Hotels neurotisch meidend – in seinem Wohnwagen, abgestellt im Park des teuersten Hotels der Gegend, wo sich diskret Jean Gabin und Marlene Dietrich trafen: am Cape Antibes im Hotel Eden Rock. Der Name „Eden“ wird Trier, dem Freund von Symbolen gefallen, denn „Eden“ heißt in seinem Film der surreale Märchenwald, in den sich ein Paar (Gainsbourg und Willem Dafoe) nach dem Tod ihres kleinen Sohnes zurückzieht, bis es zu tranceartigen sexuellen Exzessen kommt.
Das Festival hat einen Liebling
Kein Wunder dass da als Gegenbewegung Ken Loachs „Looking for Eric“ zum bisherigen Festivalliebling avancierte: eine ernste Komödie um einen Briefträger, der den Boden unter den Füßen verliert, als Manchester-United-Fan sich von der Fußballlegende Eric Cantona (der sich selbst spielt) Ratschläge holt und sein Leben mit Hilfe seiner Freunde wieder in den Griff bekommt. Fehlt zum Festivalgück noch Pedró Amodóvar. Der bringt heute Penélope Cruz und sein neues Melodram „Zerrissene Umarmungen“ mit.
Adrian Prechtel
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