Zum Anfang eine Utopie
Es sollte das gemeinsame Hauptwerk werden: Von 1911 bis 1915 rangen der Komponist Richard Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal an der „Frau ohne Schatten“. Anderswo ist dieses monumentale Musikdrama in der Wagner-Nachfolge ein weißer Elefant des Repertoires – in München gehört es zum Traditionsbestand, spätestens, seit mit dieser Oper 1963 das wiederaufgebaute Nationaltheater eröffnet wurde.
Die heutige Premiere am 50. Jahrestag markiert ebenfalls einen Beginn: Der neue Generalmusikdirektor Kirill Petrenko steht am Pult – er konzentriert sich voll auf seine Arbeit und gibt deshalb keine Interviews. Regisseur ist der Pole Krzysztof Warlikowski, von dem auch der viel diskutierte „Eugen Onegin“ mit den schwulen Cowboys stammt, den Petrenko ab Januar dirigiert.
Wer die „Frau ohne Schatten“ aus Aufführungen unter Wolfgang Sawallisch kennt, wird überrascht sein: Die Neuinszenierung bringt die Musik erstmals in München ungekürzt – eine Entscheidung, die Petrenko und Warlikowski gemeinsam getroffen haben.
Die Handlung der Oper wird oft mit Mozarts „Zauberflöte“ verglichen. Warlikowski findet den Vergleich zur groben Orientierung durchaus hilfreich: „Die Oper erzählt von zwei Paaren mit jeweils eigenen Problemen. Sie reifen, indem sie eine Prüfung mit Happy End durchlaufen“, fasst der Regisseur die Geschichte in aller Kürze zusammen.
Die Fäden im Hintergrund zieht Keikobad, der Vater der Kaiserin. Sein musikalisches Motiv eröffnet die Oper, aber er tritt nie auf und verhält sich zweideutig: „Es scheint bis zum dritten Akt, als wolle er verhindern, dass seine Tochter einen Schatten erwirbt – das Symbol für Menschlichkeit und Mutterschaft“, erklärt Warlikowski. Tatsächlich aber besteht die Prüfung in der Einsicht in diesen Irrtum, was die Handlung verwirrend macht.
Hugo von Hofmannsthals Pathos der Mutterschaft findet der Regisseur weniger problematisch: „Ich sehe auch die andere Seite des Texts: Die Kaiserin, die weiterhin wie eine Gazelle aussehen will, ist eine durchaus moderne Frau“, sagt Warlikowski, der in dieser Oper durchaus auch die Spuren von Sigmunds Freuds Psychoanalyse erkennt.
Die Stimmen der Ungeborenen, mit denen die Oper endet, liest Warlikowski als utopischen Neuanfang. „Das ist vielleicht der Grund, wieso das Stück 1963 von einem Intendanten als Eröffnungs-Stück ausgesucht wurde.“ Rudolf Hartmann war Mitglied der Nazi-Partei, auch die Rolle von Richard Strauss während des Dritten Reichs war problematisch: „Die damalige Entscheidung für die ,Frau ohne Schatten’ lese ich als Einsicht Hartmanns: Wir haben uns schuldig gemacht – aber ich vertraue auf einen Neuanfang der Generation nach uns.“
Warlikowski nimmt die Ablehnung von „Eugen Onegin“ bei der Premiere selbstbewusst: „Manche Produktionen brauchen Zeit, bis sie sich durchsetzen.“ Und er schlägt einen Bogen vom Coming out der Cowboys zur „Frau ohne Schatten“, wenn er daran erinnert, dass der 19-jährige Hofmannsthal im homosexuellen Milieu des Münchner Kreises um den Schriftsteller Stefan George verkehrte.
Hofmannsthal kämpfte mit seiner sexuellen Orientierung und gründete eine Familie. Parallel zur „Frau ohne Schatten“ arbeitete er am homosexuell gefärbten Roman „Andreas“. Am Tag der Beisetzung seines Sohnes, der Selbstmord begangen hatte, starb Hofmannsthal an einem Herzanfall. Und deshalb, so Warlikowski, ist das Thema der Oper, die Frage der Nachkommenschaft, zugleich Hofmannsthals Lebensthema.
BR Klassik überträgt die ausverkaufte Premiere ab 17 Uhr