Interview

"Wüstenblume" Waris Dirie in München: Ich bleibe eine Nomadin

Sie ist ein Star, der sich nicht instrumentalisieren lassen will. Jetzt hat das Ex-Model Waris Dirie in München das biografische Musical "Wüstenblume" vorgestellt.
von  Adrian Prechtel
Waris Dirie (li.) mit der Musical-Darstellerin Kerry Jean, die Dirie spielt, bei der Pressekonferenz im Deutschen Theater.
Waris Dirie (li.) mit der Musical-Darstellerin Kerry Jean, die Dirie spielt, bei der Pressekonferenz im Deutschen Theater. © picture alliance/dpa

Der Bestseller "Wüstenblume" von Waris Dirie berührte Menschen weltweit. Geschätzt 1965 in der Region von Gaalkacyo, Somalia, geboren, kam sie über Mogadischu nach London. Sie wurde zu einem gefeierten Model, setzt sich gegen Genitalverstümmelungen bei Frauen ein, sie hat zwei Söhne. 2020 entstand aus ihrem Buch "Wüstenblume" ein Musical, das in St. Gallen seine Premiere hatte.

Die Geschichte vom somalischen Nomadenmädchen, das zum Supermodel und zum Symbol für die Stärke der Frauen wurde, haben Gil Mehmert (Buch) und Uwe Fahrenkrog-Petersen (Musik) für die Bühne adaptiert. Anfang Oktober kommt "Wüstenblume" ins Deutsche Theater München. Um es vorzustellen, kam auch Waris Dirie in den Silbersaal und gab Interviews, obwohl sie über ihr Leben nicht mehr sprechen will. Das langweile sie, wie sie erklärt.

AZ: Mrs. Dirie, über Sie gibt es Dokumentationen, einen Spielfilm, Sie haben Bücher geschrieben. Was ist noch nicht erzählt?
WARIS DIRIE: Dass ich jetzt Kinoschauspielerin werde. Aber rückblickend ist natürlich fast alles gesagt. Schauen Sie, ich musste schreckliche Dinge verarbeiten – meine "Beschneidung" als kleines Mädchen, was ein viel zu neutrales Wort ist für die grausame, unfassbar schmerzvolle Barbarei. Seit über zehn Jahren steckt man mich immer in diese "Stop FGM Now" oder "End FGM"-Schublade, also als Gesicht für die Kampagnen gegen Genitalverstümmelungen bei Mädchen und Frauen. Aber ich bin mit 13 Jahren der Zwangsverheiratung entflohen und durch die Wüste geflohen. Ich bin eine Nomadin, das habe ich im Blut, und deshalb muss es immer weiter gehen. Ich glaube, das ist das Gegenteil von Europa, wo man so viel Kraft aufwendet, dass immer alles so bleibt, wie man es kennt.

"Wüstenblume" Waris Dirie: "In Deutschland hatte ich das Gefühl, dass mir zugehört wird"

Worum soll es in ihrem Film gehen?
Über ein Mädchen aus einem Dorf in der Felswüste Somalias, dass Läuferin bei den Olympischen Spielen werden will.

Das erinnert ein bisschen an die Geschichte des Äthiopiers Abebe Bikila, der 1960 barfuß Marathon-Gold in Rom gewann.
Ich darf ja über das Projekt noch nicht sprechen.

Wenn Sie – Somalia, London, New York – eine Nomadin sind, wo sind Sie dann zu Hause?
Als Heimatlose bin ich es nur im Moment, aber eigentlich ist meine Heimat die Wüste – in meinen Träumen, Wünschen und Gefühlen. Deshalb verstehen mich auch viele nicht. Wenn ich mich in der Natur unter einen Baum setze, fühle ich mich geborgen und sicher. In geschlossen Räumen werde ich nervös, fühle ich mich unfrei, auch wenn der Großteil des Lebens darin stattfindet. Eines Tages werden wir alle gehen müssen, und alles, was wir da zusammengesammelt haben? Auch Geld verrottet. Alles ist langweilig. I don't give a shit! Aber ich muss ein Kompliment machen: Deutschland war immer ein Land, in dem ich mich wohlgefühlt und am meisten verstanden gefühlt habe. Meine Bücher, mein Film "Die Wüstenblume", alles, was ich zu sagen hatte: In Deutschland hatte ich das Gefühl, dass mir zugehört wird – und nicht nur aus Höflichkeit oder weil man gut dastehen wollte.

Kraft, Neugierde und ein schlechtes Gewissen: "Deutschland ist da besser als andere Länder"

Wie erklären Sie sich das?
Mir schein es so, als ob in Deutschland die Zahl der Menschen besonders groß ist, die wissen will, was auf der Welt passiert. Es ist, als ob die Deutschen Hunger hätten auf das, was auf der Welt passiert. Aber ich kann das nicht erklären.

Vielleicht liegt es daran, dass von Deutschland viel Grauen in die Welt getragen wurde und man heute daher sensibler ist.
Unbewusst wäre das eine Art Saubermachen. Ich glaube, es ist auch so, dass wenn man weiß, dass es einem so gut geht, man Geld hat, eine gute Bildung hat, dass man dann aus dem Privileg heraus auch die Kraft, Neugierde und auch ein schlechtes Gewissen hat – und aus alledem hinschaut, wo es so ganz anders abgeht. Aber Deutschland ist da besser als andere Länder.

Waris Dirie würde alle fremden Einflüsse aus Afrika rausschmeißen und von vorne anfangen

Aber wir haben dennoch wenig Vorstellung von Afrika.
Da beginnt ja schon der Wahnsinn: Sie sagen: Ich komme aus Deutschland. Und ich sage: Ich komme aus Afrika? Afrika hat tausend Gesichter, aber irgendwie eine Seele. Aber auch ich – wenn ich nachdenke – fasse Afrika irgendwie geistig, spirituell zusammen: als Schönheit, als Natur.

Und in welchem Zustand empfinden Sie die Länder dort?
Es ist ein schrecklicher Mischmasch aus kolonialer Vergangenheit, verrückten Ländergrenzen, immer noch Ausbeutung. Mein Traum wäre, wenn man alle europäischen, amerikanischen, chinesischen – ich meine also alle fremden – Einflüsse noch einmal rausschmeißen und von vorne anfangen könnte. Das wäre eigentlich die postkoloniale Verpflichtung der Weißen.


Ab 4. Oktober im Deutschen Theater, www-deutsches-theater.de

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