Wirecard in den Kammerspielen
Melanie macht das Licht aus. Sie ist die Letzte, die an einem Juni-Abend 2020 ihre insolvente Firma verlässt. Dieses Ende ist der Beginn eines wuchtigen Spektakels der Kammerspiele um den schwersten Fall von Marktmanipulation und Betrug in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik. Es geht um einen Schaden von 1,9 Milliarden Euro und den Verlust von 5800 Arbeitsplätzen.
Autorin Anka Herbut und Regisseur Lukasz Twarkowski witterten dahinter aber mehr als einen Wirtschaftskrimi mit Sozialdramen um die arbeitslos gewordenen Mitarbeiter und die pleite gegangenen Geschäftspartner. Sie "verfolgen drei gleichzeitige Geschichten auf drei Realitätsebenen", wird Wolfgang (Sebastian Brandes) seinem Produzenten den Stoff schmackhaft zu machen versuchen.
Wolfgang war schon in einer früheren Szene als Regieassistent von Rainer Werner Fassbinder zu sehen, wie er versucht, den Drehabbruch einer zweiteiligen Fernsehproduktion des WDR zu verhindern. Herbut und Tarkowski beschwören damit den Geist von "Welt am Draht", mit dem sich Fassbinder 1973 auf den Science-Fiction-Roman "Simulacron-3" aus dem Jahr 1964 bezog.
Jan Marsalek meldet sich per Video
Am Vorabend des Computer-Zeitalters hatte US-Schriftsteller Daniel Galouye bereits eine Firma erfunden, die eine neue Welt aus Simulationen produziert. Eines dieser Produkte ist Wirecard im Landkreis München, weltweit bevölkert von 5800 "Ansammlungen von Daten", die sich als lebendige Menschen wahrnehmen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich der seit drei Jahren untergetauchte und von Interpol gesuchte Geschäftsführer Jan Marsalek per Videobotschaft in der Therese-Giehse-Halle meldet, wenn auch nur als Deepfake-Simulation, hinter der Martin Weigel steckt.
Aufstieg und Fall des Betriebs, der als Zahlungsdienstleister im Porno-Business anfing und mit mehr oder weniger erfundenen Geldgeschäften zum DAX-Unternehmen geadelt wurde, sind so fantastisch, dass sie als Fiktion und Simulation durchaus erklärbar sind. Sanfter Held von "WoW - Word On Wirecard" ist Hal Stiller (Elias Krischke), der nicht zufällig so heißt wie die existenziell um seine Identität ringende Titelfigur aus Max Frischs Roman.
Überwältigung durch tönende Bilder
Als Reisender zwischen der Realität des Simulations-Herstellers aus Fassbinders Film und der Fiktion des Aschheimer Finanzdienstleisters in den letzten 36 Stunden seines Untergangs verliert er sich selbst. Auch die Zuschauenden sind hin- und hergerissen zwischen Theater und Film.
Das Großraumbüro, das Bühnenbildner Fabien Léclé als Ort aus Plastik in Orange, dunkel holzvertäfelten Wänden und üppigen Grünpflanzen eingerichtet hat, ist auch Filmset. Zwei Kamerafrauen folgen den Angestellten von schillernder Durchschnittlichkeit auf Schritt und Tritt auch in die Räume und Fluren dahinter. Deren Aufnahmen finden sich als ganz großes Kino auf der Projektionsfläche darüber als grandios inszenierte Bilder im Imax-Format und in Echtzeit wieder. Sogar die Zeitlupen werden vom Ensemble live simuliert, dazu krachen dröhnende Techno-Beats und die Zeit macht Schleifen.
Annette Paulmann ist sowohl die stets besorgte Kümmerin Melanie als auch die kühl professionelle Chefin des "Zentrums für Kybernetik und Zukunftsforschung" aus "Welt am Draht" oder Stefan Merki dessen Financier Siskin sowie der heute ganz real in Haft einsitzende Wirecard-Vorstandvorsitzende Markus Braun. Twarkowskis Überwältigung durch tönende Bilder verführt dazu, die vielen offenen Enden der multipel verschachtelten Geschichten auf den unterschiedlichen Ebenen von Zeiten und Räumen, die nach drei Stunden noch immer herumliegen, zu akzeptieren. Wer bereit ist, das Spiel mitzuspielen, erlebt ein seltenes Theaterabenteuer in einer Zukunft der virtuellen Welten ohne zuverlässige Orientierung, die schon begonnen hat.
Therese-Giehse-Halle, 23., 24., 28., 29. November, 19.30 Uhr, sonntags 18 Uhr, Telefon 23396600
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