Wenn Theorien knallen
Titel sind Schall und Rauch, besonders im Theater des René Pollesch. „Gasoline Bill“ heißt sein neues Stück, das heute in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wird. Pollesch hat sich den Titel von einem 80er-Jahre-Theaterstück seines Gießener Ex-Kommilitonen Christian Bodenstein geliehen, weil er gut klingt. Mit Bodensteins Text hat das Projekt aber nichts zu tun. Stattdessen hat Pollesch mit vier Schauspielern einen Abend entwickelt, in dem die Theorien vermutlich mal wieder nur so knallen.
AZ: Herr Pollesch, die Theorien des österreichischen Philosophen Robert Pfaller haben Sie in letzter Zeit häufig in Ihren Inszenierungen verarbeitet. Jetzt auch in „Gasoline Bill“?
RENÉ POLLESCH: Ein wenig. Pfallers Interpassivität-Diskurs beschäftigt auch Slavoj Zižek, der damit Lacans Figur des großen Anderen erklärt. Zižek und Lacan sind die beiden, die uns diesmal eher angehen.
Ein Beispiel für Interpassivität ist zum Beispiel das aufgenommene Lachen bei Sitcoms.
Ja, es geht um das Delegieren von Genuss. Also darum, etwas zu delegieren, was wir nun gerade ausgerechnet und zutiefst für uns selbst halten. Das, was wir lieben, und in dem Fall der Sitcom, das, was wir witzig finden. Žižek stellte an sich selber fest, dass er eine Sitcom sieht, bei der die Lacher eingespielt werden, er unter Umständen gar nicht selber lacht, und hinterher trotzdem das Gefühl hat, er hätte sich großartig amüsiert.
Im Theater werden nun stellvertretend für uns die Dramen des Lebens gespielt.
Ja, vielleicht ist Theater ein Ort, an dem die Schauspieler die ganze Last der Gefühle für uns übernehmen. Lacan sagt, dass der Chor im Theater mal die Rührung des Publikums übernommen hat. Dann konnten die Zuschauer über Dinge nachdenken, die sie für nicht ganz so wichtig halten. Ein authentischer Zuschauer würde da jetzt entgegnen: nein, das ist doch blöd, wenn ein Zuschauer im Theater darüber nachdenkt, was er am Tag so getrieben hat, der muss doch ins Stück einsteigen, der muss mitweinen. Aber für Lacan hätte sich der erste Zuschauer von den Gefühlen entlastet, um sich profitableren Gedanken zu widmen. Und das genau wäre auch die Qualität des Abends.
Das heißt, es gibt einen Chor in diesem Stück?
Nein. Aber man kann das, was Lacan beschreibt, auch an einem Schauspieler fest machen. Der da oben weint und lacht, etwas durchleidet und durchlebt, während der Zuschauer dadurch entlastet ist. Warum muss man alles immer selbst machen? Das ist doch nur Selbstachtung, würde Pfaller sagen. Zižek sieht Freud durch die Brille von Lacan und sagt, dass Freuds Psychoanalyse uns lehrt, dass unser innerer Reichtum ein Schwindel ist. Freud konnte wie Darwin nur verwässert popularisiert werden. Freud heißt eigentlich: das Unbewusste ist der Schlüssel zu gar nichts ist.
Und was wollen Sie auf der Bühne zeigen?
Dass das Innenleben ein Schwindel ist, ist ein Gedanke, der einer herkömmlichen Auffassung von psychologischem Spiel, im Theater zum Beispiel, erst mal äußerst fern ist. Auch uns selbst. Man ist ja dazu aufgefordert, so viel wie möglich an Selbst zusammenzutragen, damit man als reiche Persönlichkeit in jedes Bewerbungsgespräch reingehen kann.
Sie haben schon früher das Repräsentationstheater kritisiert. Aber die Leute haben weiterhin Sehnsucht nach Geschichten.
Ja, es gibt vielleicht verdrehte Vorstellungen darüber, was warm und was kalt ist. Eine wahre Geschichte steht im Zentrum unseres Abends: Es gab diesen Riesensturm zwischen Hamburg und Berlin. Ein junger Schauspieler musste zu einer Vorstellung und hat einen Mietwagen genommen, zusammen mit einer Freundin, die auch in dem Stück spielte. Es ist eine total wilde Fahrt, das Auto wird durchgerüttelt vom Sturm. Aber sie schaffen es ins Theater, das Stück wird gespielt. Mitten im Abend kollabiert der junge Schauspieler, der immense Anstrengungen hinter sich hat, die Vorstellung überhaupt stattfinden zu lassen, kann sich gerade noch in die Kulissen retten und bricht dort zusammen. Daraufhin stürmen alle hinter den Kulissen zu ihm, voller Sorge, fragen, was los ist. Alle kümmern sich, alle sind ganz warm. Und vielleicht steht jemand kalt draußen, der sich das ansieht und sagt, lasst uns die Vorstellung abbrechen, dem geht es nicht gut. Von den anderen kommt keiner auf die Idee zu sagen, wir müssen die Vorstellung abbrechen. Das ist etwas, was Lacan und Zižek über obsessive Neurotiker sagen: In der Psychoanalyse-Situation redet und redet der Patient, und der Analytiker weiß, der redet nur, um nicht zu dem Punkt zu kommen, um den es eigentlich geht. Das kann man auch anwenden auf das derzeitige politische Handeln.
Wo alle ganz warm sind.
Ja, alle sorgen sich, alle reden wie ein Psychoanalyse-Patient, aber es lässt sich nicht abstreiten, dass sich nichts ändert. Man könnte sagen, dieses Handeln dient vor allem dazu, dass sich nichts ändert. Die Vorstellung muss weitergehen.
Premiere heute, Sa, 20 Uhr im Schauspielhaus. Auch am 21.11., 25. 11. und im Dezember. Karten unter Telefon 233 966 00
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