Was Spielart bringt

Am Freitag beginnt das 13. Spielart-Festival und bietet 16 Tage ein Performance-Programm
Michael Stadler |
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Sophie Becker und Tilmann Broszat.
Veronika Wagner Sophie Becker und Tilmann Broszat.

Am Freitag beginnt das 13. Spielart-Festival und bietet 16 Tage ein großes Performance-Programm. es ist die letzte Ausgabe mit Festival-Gründer Tilmann Broszat

Vorhang auf! Das 13. Spielart-Festival beginnt am Freitag gleich mit einer ganz schönen Masse an Produktionen, Installationen, Gesprächen – und ja, sogar einen roten Vorhang gibt es, der in dem zentralen Stück des Eröffnungsreigens, „No President“ des New Yorker Kollektivs Nature Theater of Oklahoma, von einer Sicherheitsfirma bewacht wird. In der Muffathalle findet dieses Spektakel statt, in dem es um den Ausverkauf der Hochkultur geht und um Alphatiere im Stile von Donald Trump.
Als Gründer und langjähriger (Mit-)Leiter von Spielart hat Tilmann Broszat eher wenig bis gar nicht trumpig gewirkt, sondern ruhig und souverän sein alle zwei Jahre stattfindendes Performance-Festival vom Gründungsjahr 1995 ins Heute geführt. Sophie Becker, die seit 2008 als Kuratorin und Dramaturgin bei Spielart mitwirkte, hat mittlerweile Gottfried Hattinger in der Co-Leitung abgelöst und wird nach dieser Ausgabe die alleinige künstlerische Leiterin von Spielart sein.
Für Broszats Abschiedsrunde wurden einige Bekannte aus alten Spielart-Zeiten eingeladen. Dazu gehören das Nature Theater of Oklahoma, aber auch Stefan Kaegi und Bernd Ernst, deren Audio-Walk „Kanal Kirchner“ noch mal aufgelegt wird sowie Forced Entertainment aus Sheffield, die nostalgisch mit drei älteren Produktionen am Start sind. Insgesamt gibt es in 16 Tagen Festival 49 Produktionen aus 28 Ländern inklusive dem Mini-Festival „New Frequencies“ am letzten Spielart-Wochenende, bei dem 15 Arbeiten von jungen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt werden.

AZ: Frau Becker, Herr Broszat, haben Sie Orientierungshilfen für das Programm?
SOPHIE BECKER: Ja, man kann sich zum Beispiel wieder geographisch orientieren: Wir haben uns von Südafrika, dem wir vor zwei Jahren einen Schwerpunkt widmeten, teilweise fortbewegt, nach Mozambique, Nigeria, Kamerun, Namibia und in die Demokratische Republik Kongo. Und wir waren viel im Mittleren Osten unterwegs. Es gibt Produktionen von Künstlerinnen aus Ägypten und aus dem Libanon. Tania El Khoury, eine alte Spielart-Bekannte, ist mit zwei Arbeiten dabei, mit „As Far As My Fingertips Take Me“ (Gasteig, Foyer Carl-Orff-Saal, 25. bis 29. Oktober, 14 bis 18.15 Uhr) und „Cultural Exchange Rate“ (Einstein Kultur, 26. bis 30.10.).

Gibt es irgendwelche inhaltlichen roten Fäden?
SOPHIE BECKER: Ja. Es gibt zum Beispiel einige Produktionen, in denen persönliche Erlebnisse im Vordergrund stehen und über sich auf die Gesellschaft hinausweisen. Beispielsweise hat sich Boris Nikitin, ein Regisseur aus Basel, zum ersten Mal selbst auf eine Bühne gestellt, um von seinem Vater zu erzählen. Der Vater ist schwer erkrankt und wollte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, hat diesen Plan aber immer wieder aufgeschoben („Versuch über das Sterben“, 4.11., 19 und 21 Uhr im HochX).

Auch das Wort „Ritual“ findet sich häufig im Programmheft.
SOPHIE BECKER: Ja. Wir zeigen im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst ein Ritual von Nashilongweshipwe Mushaandja (am 1.11., 17 Uhr) und von Jelili Atiku (2.11., 17 Uhr). Dazu kann auch Christian Etongo mit „Totem“ im Museum Fünf Kontinente gezählt werden (3.11., 11 Uhr) und Jeremy Nedd mit „The Ecstatic“ in der Kammer 2 (29.10., 20.30 Uhr; 30.10., 19 Uhr). Das Ritual spielt auf dem afrikanischen Kontinent, aber zum Beispiel auch in Korea eine starke Rolle. Im Grunde ist das eine bewusste Gegenbewegung zum westlichen Rationalismus. Diese Rituale entziehen sich unserem Verständnis. Wobei Jelili Atiku zum Teil selbst nicht weiß, was er tut, weil er sich in Trance versetzt.

Wie soll man diese Performances dann rezipieren, also: verstehen?
SOPHIE BECKER: Wir haben Einführungen organisiert, um Hilfestellung zu geben. Und es geht eben genau darum, dass die Beteiligten sagen: Ihr seid geprägt von Descartes, von der Konzentration aufs Denken, wir aber funktionieren anders. Die Herausforderung liegt auch darin, sich darauf einlassen zu können. Bei der letzten Ausgabe wurde uns gerade von südafrikanischen Künstlern und Künstlerinnen gespiegelt, dass sie das deutsche Publikum als beunruhigend ruhig erleben. Es gab bei Mamela Nyamza eine Situation, als sie in ihrer Rolle als Priesterin ins Publikum rief und eine Antwort erwartete. Bei der zweiten Vorstellung haben andere Performer ein „Amen“ zurückgerufen und wurden sofort von deutschen Zuschauern diszipliniert: Sie sollen ruhig sein, man sei hier im Theater. Gerade deshalb haben wir jetzt einige Arbeiten, die die Rolle des Zuschauers in den Blick nehmen.

Dazu gehören die afrikanischen Rituale?
SOPHIE BECKER: Ja, aber auch „And On The Thousandth Night“ von Forced Entertainment am Ende des Festivals (8.11., ab 19 Uhr, Muffathalle). Das ist eine Performance, die sechs Stunden dauert. Allein durch die Dauer wird das Publikum in eine ganz andere Rezeptionshaltung versetzt.
TILMANN BROSZAT: Gerade bei einer Durational-Performance findet eine Gemeinschaftsbildung statt. Wir hatten mal eine 24-Stunden-Vorstellung von Forced Entertainment, wo die Leute zwischendurch einige Stunden schliefen, während die gespielt haben, und gemeinsam wach wurden.

Forced Entertainment als alte Festivalbekannte sind wohl Teil Ihres Abschlussrituals?
BROSZAT: Das war vor allem Sophies Idee. Mich freut es natürlich, dass sie kommen.

Wann kam bei Ihnen der Entschluss, aufzuhören? Es ist doch schwierig, sich von etwas zu trennen.
BROSZAT: Ach, ich empfand es als gar nicht so schwierig, sondern es hat sich recht organisch angefühlt. Sophie ist schon lange Zeit dabei und hat immer mehr Programm-Aufgaben übernommen. Ich hatte auch im Lauf der Jahre den Eindruck, dass ein Generationenwechsel fällig wird. Wir hatten meiner Ansicht nach zwei Politisierungsphasen bei Spielart: Die eine war 2009, als wir angesichts der Finanzkrise das Symposium „Woodstock of Political Thinking“ veranstalteten. Das war vor allem von einem antikapitalistischen Diskurs geprägt. 2015 haben wir dann das „Show me the world“-Symposion veranstaltet, die ganze postkoloniale Debatte hat eine zentrale Rolle gespielt. Dabei kam die Idee auf, international mit anderen Kuratorinnen und Kuratoren vor Ort zusammenzuarbeiten, um diesen eurozentrischen Blick zu brechen. Sophie hat in diese Richtung begeistert weitergearbeitet, ist viel gereist. Und für mich war der Punkt erreicht, wo ich gemerkt habe, dass ich in bestimmten Debatten einfach nicht mehr so drin bin und mich lieber in eine passivere Rolle begeben möchte.

Und jetzt werden Sie Privatier und betreuen Ihren Schrebergarten?
Ich habe keinen Schrebergarten. Der Verein Spielmotor macht ja drei Festivals: die Musik-Biennale, Dance und Spielart. Da habe ich einige Aufgaben, werde aber meine Arbeitszeit vielleicht halbieren.

Gibt es eine Performance, an der Ihre Herzen hängen?
SOPHIE BECKER: Mein Herz hängt jeden Tag an etwas anderem. Was man nicht unterschätzen sollte, sind die drei Performances von Nástio Mosquito, die zu später Stunde im Boxkeller MTV (26.10., ab 23.30 Uhr), im Festivalzentrum (27.10, ab 23 Uhr) und im Harry Klein (28.10., ab 22 Uhr) stattfinden. Das ist kein lustiges Nachtprogramm, sondern er ist wirklich ein unglaublich starker Performer.

Herr Mosquito singt Karaoke. Werden Sie mitsingen?
SOPHIE BECKER: Ne…Til, du?
TILMANN BROSZAT: Ich schon gar nicht.

Spielart, vom 25.10 bis 9.11., verschiedene Spielorte, Programm unter www.spielart.org

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