"Warten auf Platonow": Wir sind Gefangene

Thom Luz ist zurück. Der Schweizer Regisseur, der am Residenztheater bereits "Olympiapark in the Dark", "Leonce und Lena" und zuletzt "Die Wolken, die Vögel, der Reichtum" inszenierte, hat sich nun im Cuvilliéstheater Anton Tschechow vorgenommen. Was auch ein Statement ist gegen eine pauschale Verdammung aller russischer Kunst aufgrund von Putins Krieg in der Ukraine.
Wie immer bei Luz ist das zugrundeliegende Werk, hier eben "Platonow", aber nur ein Sprungbrett in seine eigenen Fantasien. "Warten auf Platonow" nennt er seine Inszenierung. Und man spoilert nicht, wenn man verrät, dass dieses Warten ein ebenso vergebliches sein wird wie das auf Godot, das bereits im Titel anklingt.
Wie ein Standbild aus einer anderen Zeit
Die Atmosphäre der Dramen Tschechows allerdings fängt Luz recht genau ein. Wenn der eiserne Vorhang sich dröhnend hebt, blickt man in eine Gesellschaft, die sich auf einer doppelten Treppenkonstruktion drapiert hat wie ein Standbild aus einer anderen Zeit. Irgendwann bewegt sich kaum merkbar eine der zehn Figuren, setzt vorsichtig einen Fuß auf die darunter liegende Stufe. Im Chor stimmen sie "Ruhe" von Franz Schubert an, immer wieder die erste Zeile ("Ruhe, schönstes Glück der Erde"). Als wollten sie etwas heraufbeschwören, das längst verloren ist.
Und tatsächlich: Ab da wird alles Klang. Die Stufen der Treppen verwandeln sich in die Tastatur eines Instruments, das beim Betreten immer neue Töne hervorbringt. Laufend, rennend, springend und tanzend spielen Linda Blümchen, Christoph Franken, Vincent Glander, Evelyne Gugolz, Florian Jahr, Nicola Kirsch, Delschad Numan Khorschid, Nicola Mastroberardino, Barbara Melzl und Cathrin Strömer dieses Instrument. Mal laut, mal leise, mal melodisch, mal atonal. Akustisch arbeitet Luz sich durchaus an die Grenze des Angenehmen heran, es ist oft laut, schrill, dröhnend.
Sie alle sind Gefangene irgendwie, Gefangene ihrer selbst. Alle bemühen sich um Heiterkeit, die Leerstellen aber lassen sich weder leugnen noch füllen. Vor allem ist da eben dieser Platonow, der irgendwie über allem schwebt, den alle sehnsüchtig erwarten. Immer wieder die Frage: "Wann kommt er denn?" Sie warten mit dem Essen, rollen einen roten Teppich für ihn die Tonleitertreppe herunter, verzweifeln, wenn sein Zug nicht kommen will. Was Luz da inszeniert, ist eine sensible Versuchsanordnung, in der die Nerven blank liegen: "Dieser Zug hat jetzt schon 11 Minuten Verspätung, ich möchte nicht mehr leben", sagt einer.
Die Hölle, das sind auch hier die anderen
Dieses Land, in dem sie gestrandet sind, ist kein helles, kein fröhliches. Vielleicht ist es Russland, vielleicht nicht. In jedem Fall könnte es besser sein: "In allen Ländern ist die elektrische Beleuchtung schon eingeführt, nur wir hier in unserem Land stehen einmal mehr hinten an und tappen in dunklen Höhlen wie Urmenschen vor der Erfindung des Mondscheins." Sie träumen sich nach Griechenland, wo es Pottwale gäbe und Tiger und Hummer und sogar Pfifferlinge.
Luz choreographiert den Tschechowschen Müßiggang in einem Gesamtkunstwerk aus Text, Ton und Bewegung. Mal dient der vorangegangene Satz mal als Stichwort für den nächsten, mal nicht. Die Sätze wiederholen sich, der Text ist Partitur, folgt eher dem Rhythmus als einer logischen Entwicklung. Wenn die Figuren doch mal mit- oder über einander sprechen, haben sie wenig Freundliches zu sagen.
Die Hölle, das sind auch hier die anderen. Auf engem Raum sitzen sie aufeinander, mit all ihrer Wut, ihrer Verzweiflung, ihrer Hoffnungslosigkeit. Denn dass ihre Hoffnung vergeblich ist, ahnen sie wohl ("Wenn Sie glauben, dass Platonow ihre Probleme lösen wird, dann kennen Sie Platonow nicht"). Ihr Weltbild ist ein fatalistisches: "Ein Mensch wird geboren und hat drei Richtungen zu Auswahl: geht er nach rechts, fressen ihn die Wölfe, geht er nach links, frisst er die Wölfe, geht er geradeaus, frisst er sich selbst."
All dem wohnt ein spezieller Zauber inne. Es entstehen absurde Miniaturen menschlichen Sehnens und Scheiterns. Der Abend ist eine präzise Choreographie der Blicke, der kleinsten Schritte und Regungen. Jede und jeder kreist in seinem eigenen Kosmos, um sich.
Nur hie und da kreuzen sich die Gedanken und Gefühle. In einem Punkt aber sind alles sich einig: Die Sommerfrische hat nicht gehalten, was sie diesen Hungrigen versprochen hat. Am Ende dreht sich die Bühne, alles scheint sich in Auflösung zu befinden. Kommt nun dröhnend die ersehnte Veränderung? Nein, alles dreht sich zurück auf Anfang. Das Schlussbild ist das Anfangsbild. Das Leben eine einzige Wiederholung.
Wieder am 14. 24 . und 31. Oktober im Cuvilliéstheater. Karten online und unter Telefon 2185 1940