Verpasste Chancen und Müßiggänger: Tschechows "Die Vaterlosen"

München - Der Beginn weckt alte Berliner Volksbühnen-Sentimente. Carl Hegemann – Frank Castorfs und Christoph Schlingensiefs Dramaturg – checkt am Smartphone die Schlagzeilen von vorgestern. Später schlaumeiert er als Literaturlexikon und plaudert im zweiten Akt mit dem einsilbigen Autorenfilmer Ulrich Seidl immer wieder über Theater, Film und das Altern.
Warten auf den Schlussapplaus
Nach der Pause, wenn Jette Steckels Inszenierung das Thema sexueller Missbrauch anschneidet, hätte Hegemann Seidl zu den Berichten über Vorwürfe der Ausbeutung von Kindern bei den Dreharbeiten bei seinem Film "Sparta" und die damit verbundene Vorverurteilung befragen können. Aber da warteten die beiden längst in der Kantine der Kammerspiele auf den Schlussapplaus. Was zum Stück passt.
Verpasste Chancen
Anton Tschechows "Die Vaterlosen", auch als "Platonow" bekannt, handelt von verpassten Chancen. Das ausufernde Frühwerk versammelt bereits das übliche Personal der Hauptwerke: eine der Versteigerung ihres Gutes entgegenfeiernde Generalswitwe und die von Gott und der Welt schwafelnden Müßiggänger, die ihren Hintern nicht vom Sofa hochkriegen, um irgendetwas halbwegs für sich oder gar die Welt Nützliches zu tun.
Der übliche Theaterpazifismus
Weil das Stück in Südrussland spielt und am Asowschen Meer unweit der heutigen Grenze zur Ukraine entstand, raunt die Homepage der Kammerspiele drohend von Militarismus und Aktualität. Tatsächlich tritt ein von Walter Hess gespielter Oberst im Ruhestand auf, der – nach eigener Darstellung – beinahe General geworden wäre. Dazu erklingt operettenhafte Marschmusik, und das Thema ist mit dem üblichen Theaterpazifismus auf billigste Weise abgehakt.
Leicht gelangweilter Zufallsgast
Die Regisseurin hat auch darauf verzichtet, die häufige Erwähnung großer Hitze aktualisierend auszuschlachten. Das ist zu begrüßen, aber es bleibt wie alles Schöne nicht ohne Nachteile. Denn als Zuschauer wähnt man sich vor der Pause als leicht gelangweilter Zufallsgast unter den Tagedieben einer Berliner Laberparty.
Mittellustig und abgedroschen
Steckel ersetzt die Dauer-Melancholie naturalistischer Tschechow-Aufführungen der angeblich so guten alten Theaterzeit durch den Zweitaufguss des Volksbühnen-Slapsticks der Neunziger. Man sieht lächerlichen Menschen zu, die sich lächerlich machen und von den Darstellern mit sanfter Ironie lächerlich gemacht werden. Das ist bekanntlich so mittellustig, mittlerweile abgedroschen und daher ungefähr so interessant wie die gelegentlich eingestreute Kritik an der Kritik an den Kammerspielen.
Ordentlich und altmodisch virtuos
Aufgewogen wird das alles aber durch sehr ordentliches und im Grund altmodisch virtuoses Schauspielertheater. Joachim Meyerhoff erinnert als Platonow mit Bart, Brille und dem grantelnden Sarkasmus anfangs an den Petterson aus den Kinderbüchern. Bei Tschechow ist er Grundschullehrer, in der Aufführung würde man auf moralisch aufgeladene Besserwisserfächer Deutsch, Ethik und Sozialkunde tippen.
Schlaksige Rotzigkeit
Meyerhoffs Platonow weckt mit schlaksiger Rotzigkeit anfangs durchaus Sympathien: Er ist der Ernste in all der schwatzhaften Leichtlebigkeit. Das schafft eine Fallhöhe für den emotionalen Missbrauch an den beiden Frauen, die sich im Verlauf der Handlung an den verheirateten Familienvater ranschmeißen. Und natürlich an seiner Gattin (Edith Saldanha). Nach der Pause stilisiert sich Platonow dann zum unschuldigen Schmerzensmann, der sich mit allerlei Stangen selbst foltert, bis er aussieht wie der Heilige Sebastian.
Zuletzt verabschiedet er sich sterbend mit der Bemerkung, „die Menschen“ seien ihm immer das Allerliebste gewesen. Das erinnert dann – auf private Beziehungen heruntergebrochen – an den Satz des Staatssicherheitsministers Erich Mielke vor der DDR-Volkskammer.
Brave Aufführung
Platonows Opfer-Getue bricht ein Monolog von Katja Brunner. Anna Gesa-Raja Lappe berichtet darin von einer missbrauchten junge Frau, der vor Gericht nicht geglaubt wurde. Bis dahin folgt die Aufführung dem leicht aktualisierten Text brav wie eine Inszenierung von Rudolf Noelte oder Thomas Langhoff. Das wirkt unentschieden, weil jenseits der komplexen Zweideutigkeit Platonows alle anderen Themen eher Behauptung bleiben.
Der Generationenkonflikt verpufft
Die Kritik an der Tatenlosigkeit der überalterten Gegenwartsgesellschaft bleibt oberflächlich, der vom Titel suggerierte Generationenkonflikt verpufft: Alle Figuren sind alterslose Best-Ager in Nirgendwo zwischen 35 und 60. Hegemanns "Dad Man Talking" trug in seiner geradezu bestürzenden Inhalts- und Mutlosigkeit am Premierenabend nichts bei.
Das könnte sich mit wechselnden Gästen in späteren Vorstellungen ändern. Zu große Hoffnungen sollte man da aber nicht haben, denn der weit nach 23 Uhr endende Abend birgt in seiner Liebe zu den Textmengen der Vorlage keinerlei Zeitreserven in sich.
Unterhaltsame Emotionalclowns
Meyerhoff trennt sprechend Tschechow und die Kommentare sauber. Alle anderen Figuren und Darsteller tendieren zum Emotionalclown. Das hat fraglos einigen Unterhaltungswert: etwa in den akrobatisch stilisierten Liebes- und Kampf-Szenen, wenn Wiebke Puls, Katharina Bach und Martin Weigel mit Meyerhoff herumturnen. Der Pferdedieb Ossip (Thomas Schmauser) bleibt der übliche russischer Vagabund mit sanft spirituellen Anwandlungen. Der Wald aus Stangen (Bühne: Florian Lösche) und der Musiker mit Hut (Matthias Jakisic) kommen einem irgendwie bekannt vor.
Übergroße Ambitionen
Die von übergroßen Ambitionen im Würgegriff gehaltene Inszenierung ist wegen Meyerhoff, Bernardo Aria Porras, Edmund Telgenkämper und Wiebke Puls als Theater durchaus sehenswert. Hinsichtlich ihres Beitrags zu aktuellen und überzeitlichen Debatten sei auf die Warnung der Kammerspiele verwiesen: Auf der Bühne wird mit Schreckschusspistolen geschossen