"Unsere Zeit": An der Tankstelle des Lebens

"Unsere Zeit" im Residenztheater: Simon Stone verpasst den Werken von Ödon von Horváth ein Update.
Michael Stadler |
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Unheimlicher Doppelgänger: Im dritten und letzten Teil von Simon Stones "Unsere Zeit" taucht der Zwillingsbruder des DHL-Boten Martin, Jürgen, auf (beide gespielt von Max Rothbart). Im Innern der Tanke sind Hawal (links an der Kasse: Delschad Numan Khorschid) und Ulli (Antonia Münchow).
Unheimlicher Doppelgänger: Im dritten und letzten Teil von Simon Stones "Unsere Zeit" taucht der Zwillingsbruder des DHL-Boten Martin, Jürgen, auf (beide gespielt von Max Rothbart). Im Innern der Tanke sind Hawal (links an der Kasse: Delschad Numan Khorschid) und Ulli (Antonia Münchow). © Birgit Hupfeld

Man darf sich beglückt und überfordert fühlen zu Beginn dieser Theatersaison. Die großen Häuser lassen gleich mal richtig große Ensemble-Produktionen aufs Theatervolk los, fordern dabei einiges an Sitzfleisch und geistiger Ausdauer ein: vier Stunden "Effingers" mit zwölf Spielenden in den Kammerspielen am Samstag, einen Tag darauf fast sechs Stunden "Unsere Zeit" im Residenztheater, inszeniert von Simon Stone mit 15 Ensemblemitgliedern. Und kaum wird der Blick frei auf das Szenario vorne, ist man noch mehr überwältigt: von Blanca Añóns fulminantem Bühnenbild, das sich mehr als nur an die Realität anlehnt, sondern Realität praktisch direkt ins Residenztheater pflanzt.

So lebensecht, so detailreich steht da eine Tankstelle, ein riesiger Glaskasten kapitalistischer Rundum-Versorgung, denn hier wird nicht nur das getankte Benzin bezahlt (Zapfsäulen stehen nicht davor, dafür ein Stehtisch), sondern hier kann man auch die Post abgeben, wie im Supermarkt Waren kaufen und sich wie in einem Café zum Kaffee- oder Biertrinken hinsetzen.

Eine Szene aus Simon Stones Horváth-Projekt.
Eine Szene aus Simon Stones Horváth-Projekt. © Birgit Hupfeld

Auf zwei hohen, links und rechts hängenden Screens werden ausschnitt- und wechselhaft Bilder aus dem überwachten Inneren gezeigt. Die Kasse befindet sich in einem per Eintippen eines Tür-Codes betretbaren und durch Panzerglas gesicherten Raum, was zukünftige Katastrophen erahnen lässt. Wo Panzerglas ist, ist ein Überfall nicht weit.

Reich an Vorausahnungen

An Vorausahnungen ist der Beginn dieses dreiteiligen, von zwei Pausen unterbrochenen Abends sehr reich. Schließlich umfasst er eine lange Zeitstrecke, von 2015 bis ins Heute, und Regisseur Simon Stone, seine Dramaturgin Constanze Kargl und sein an der Entwicklung der Charaktere beteiligtes Ensemble wissen allesamt, dass dazu interessante Figurenbögen angelegt und gespannt werden sollten, vom lockeren, leicht konfliktbeladenen Prolog bis hin zum tragödiengerecht bitteren Ende. Wenn Simon Zagermanns einnehmend gemütsvoller, im besten Bairisch redender Tankwart Konrad seine neue Aushilfe Ulli (ein Herz der Inszenierung: Antonia Münchow) mitsamt dem Publikum in den Transitort Tankstelle einführt, flirtet er ungeniert mit der Neuen, die sich nicht abgeneigt für seine Avancen zeigt.

Bald treffen sie sich auch nach Feierabend. Werden ein Paar. Und weil Stone alle möglichen Diskurse der letzten sechs Jahre in den Abend einwebt, wird der nicht gerade zimperliche Womanizer Konrad sich später MeToo-Vorwürfen stellen müssen, was seine sowieso schon wacklige Beziehung zu Ulli endgültig beschädigt.


Dass Beziehungen unweigerlich ihre Höhen und Tiefen haben, war schon immer ein gefundenes Fressen für die darstellenden Künste. Aber wie die ökonomischen Bedingungen das Leben der "einfachen" Leute einfärbt und gerade ihre zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflusst, ist schon eine Spezialität der Werke von Ödön von Horváth, die Simon Stone als materialreiche Inspirationsquelle für seinen ambitionierten Figurenreigen am Pulsschlag unserer Zeit genommen hat.

Parallelen zwischen Bearbeitung und Vorbild

Mit dieser Hintergrundinformation ist man als Zuschauer darauf geeicht, nach Parallelen zwischen der sehr freien Bearbeitung und dem Vorbild zu suchen. Und ja, ein paar Namen lehnt Stone an Horváth an, es gibt zum Beispiel eine Elisabeth (Franziska Hackl) wie in "Glaube Liebe Hoffnung", und während die Horváth-Elisabeth sich auf einen jungen Polizisten einlässt, der um seinen guten Ruf so besorgt ist, dass er ihren Bruch mit den Anstandsregeln der Zeit nicht dulden kann, so gehört zu den Stammgästen der Stone-Tankstelle ein Cop mit schwarzer Lederjacke (Oliver Stokowski), der nebenbei als Zuhälter Escort-Damen an den Mann bringt, womit er sein mageres Polizistengehalt beträchtlich aufstockt.

Stone und sein Ensemble denken Horváths Figuren, die in den Zwanzigern, Dreißigern des letzten Jahrhunderts um ihre Existenz und Würde kämpfen, ins nicht weniger prekäre Heute weiter, wobei jetzt Anstand und Sitte einen anderen Stellenwert haben und ein unverblümteres Vokabular zum Ausdruck der eigenen Bedürfnisse genutzt wird.

Dass manche Frauen sich, um überleben zu können, prostituieren, streute Horváth galant zwischen den Zeilen ein. In Stones Reload drückt sich die Escort-Dame Julia (Liliane Amuat) doch wesentlich direkter aus, bietet dem geschniegelten Fußballmanager Felix (Florian Jahr) auch mal einen "Gratisfick" an, weil sie auch einfach mal so Lust auf Sex hat.

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Die Männer plagen jedoch zunehmend Potenzprobleme, entpuppen sich als Schlappschwänze, die den selbstbewussten Frauen nicht gewachsen sind. Michael Wächter stellt mit dem Bauführer Georg ohne Eitelkeit und Gnade ein Paradebeispiel für versehrte Männlichkeit dar. Bei diesem Georg fällt alles zusammen, der Beruf, die Beziehung zu seiner Frau, die Affäre mit der Adoptivschwester seiner Frau (Yodit Tarikwa als zunehmend desillusionierte UN-Mitarbeiterin).

Im letzten Akt liegt er betrunken im Schnee und gibt dann doch auch ein bedauernswertes Bild ab. Ähnlich bergab geht es mit Tankwart Konstantin, der seiner Wut lautstark Luft macht, dass ihm für seine wohltätige Ader gar kein richtiger Dank zuteil wurde! Sozialarbeiterin Ruth (Barbara Horvath) retourniert mit einer Suada darüber, dass sie keinen Bock mehr auf das Selbstmitleid der Männer hat und erntet dafür reichlich Szenenapplaus.

Wirkmächtig erscheinen bei Stone vor allem die Frauen, von denen jene, die nicht "bio-deutsch" sind, auch noch mächtig viel Wut im Bauch haben. Massiamy Diaby erzählt als Sophie mit steigendem Furor davon, wie sie in der Münchner Gesellschaft nicht und vermutlich niemals ankommt. Ihr Schrei, dass sie dazugehört, wird ebenfalls mit Szenenapplaus quittiert.

Politisch korrekt gebender Kulturbetrieb durch Kakao gezogen

Stone lässt bewusst jene abstürzen, die obenauf sind, und jene aufsteigen, die scheinbar keine Chance haben. So macht die Tankstellenaushilfe Peter (Benito Bause) mit seinem Start-Up überraschend Karriere. Und der Geflüchtete Hawal (Delschad Numan Khorschid), der 2015 zu Merkels "Wir schaffen das" in der Tankstelle auftaucht und von Konstantin aufgenommen wird, integriert sich langsam, aber sicher, bewirbt sich sogar an einer privaten Schauspielschule, weil gerade "nichtweiße Leute in deutschen Ensembles" en vogue sind.

Da zieht Stone auch kurz mal den sich politisch korrekt gebenden Kulturbetrieb durch den Kakao, so, wie er immer wieder mit Witz oder tiefem Ernst untergründige Ressentiments aufdeckt und ein Gutmenschentum entlarvt, hinter dem dann doch nur egoistische (Wirtschafts-)Interessen liegen. Stones Verve sorgt in seinem ausufernden Zeitporträt zu einigen fantastischen Szenen, hervorragend flüssig geschrieben, großartig von dem Ensemble gespielt. Aber gerade im letzten Teil, der im Corona-Jahr 2021 spielt und plötzlich eher verwirrend mit Rückblenden arbeitet, lässt Stone seine Figuren viel zu sehr monologisch von ihrem Leben erzählen und den Hintergrund ihrer Leiden erklären, anstatt dass die Handlung durch die Interaktion der eigentlich so schön eingeführten Charaktere voranschreitet.

Stones leidenschaftliches, hoch engagiertes Theater kippt gerade zuletzt in die politische Lehrstunde, alles wird ausbuchstabiert, die Figuren verlieren ihren Charme, ihr Geheimnis. Der Ex-DHL-Bote Martin (Max Rothbart) mutiert zum Rechtsextremen, der seine Homosexualität nicht wahrhaben will und eindimensional zum Amokläufer wird, womit ein paar Figurenbögen schlicht gekillt werden.

Der so wunderbar flamboyante, charismatische, kaum greifbare Eric (Thiemo Strutzenberger) wird zum dahinschreitenden Geist im Glitzerkleid; der von Nicola Mastroberardino so gewitzt, warm und ganz eigen gespielte Sonderling Massimo beim Erzählen der Katastrophe seines Lebens zur Mitleidsgestalt.

Horváth war bekannt für seine wohl gesetzten Stille, die Leerstellen, die den Leser und Zuschauer zum Ausfüllen aktivieren. Stone segelt jedoch mit seinem ausformulierten Update immer wieder in das Melodrama, den Revolverroman, den Betroffenheitskitsch. Als megalomanes Projekt mit tollem Bühnenbild und einem Ensemble, das sich hier in aller Schauspielpracht zeigen darf, ist der Abend dennoch beeindruckend. Das Theater ist zurück und haut uns die Gegenwart um die Augen und Ohren.


Residenztheater, nächste Aufführungen am 2., 3., 4., 5. und 6. Oktober, immer ab 17 Uhr, Karten unter Telefon 2185 1940

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