Unentwegte Neugier: Walter Hess zum 85. Geburtstag

Der König macht sich rar. An diesem "Abend für Walter Hess" im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele bleibt sein Platz erstmal leer. Dirigent Daniel Grossmann hat in den Kosmos von Komponist Morton Feldman und Autor Samuel Beckett eingeführt, deren gemeinsames Werk "Words and Music" hier aufgeführt werden wird, das Jewish Chamber Orchestra Munich hat angefangen zu spielen und Stefan Merki die ersten Texte gesprochen.
Da öffnet sich das Bühnentor, und Walter Hess schlurft herein. In der Hand ein Zepter, gehüllt in den dunkelblauen Bademantel, den ihm das Ensemble der Kammerspiele zu seinem 80. Geburtstag geschenkt hat und auf dessen Rücken "King Walter" eingestickt ist. Golden, na klar.

"Endlich!", ruft Merki. Hess setzt sich, sieht zu, wie Merki sich abarbeitet an Becketts Texten über die Liebe und das Altern, wie er immer wieder in Konkurrenz geht zur Musik, und fordert immer wieder: "Meine Treuen, vertragt euch!" Stampft mit seinem Zepter auf den Boden und zeigt den Jungen, wer hier das Sagen hat. Bis er einschläft, ihm das Zepter aus der Hand fällt und er schließlich von der Bühne schlurft, wie er sie betreten hat.
Wie ein Flummi über die Bühne
Es ist der Vorabend seines 85. Geburtstags, und nur wer Walter Hess nicht kennt, könnte meinen, es mit einem alten Mann zu tun zu haben. Im Februar hatte er zuletzt Premiere hier am Haus, ein Tanzabend von Doris Uhlich: "In Ordnung". Hess hüpfte wie ein Flummi über die Bühne, gab sich den harten Beats hin, verlor sich in Rhythmus und Bewegung.
Um seinen 80. Geburtstag herum, in einem Alter, wo die meisten eher zurückblicken, schaute Walter Hess nach vorn und entdeckte noch mal eine ganz neue Theaterwelt für sich: das Tanztheater. In Trajal Harrells "Morning in Byzantium" spielte er das erste Mal in einem Tanzstück. Mit wehender Jacke sprang er durch den Raum und erklärte mir in einem Gespräch: "Ich genieße das sehr! Dieser letzte Tanz mit den jungen Tänzern ist so animierend, dass ich wirklich aufpassen muss, dass ich nicht zu beherzt über meine körperlichen Grenzen komme."
Aber wahrscheinlich ist es gerade das, was ihn so jung hält: seine Neugier und seine Aufgeschlossenheit. Seine Verschmitztheit dem Leben und dem Theater gegenüber. "Vielleicht sind ja Tanzprojekte eine Möglichkeit, wenn man den Text im Alter nicht mehr beherrscht." Wenn Walter Hess Sätze wie diesen sagt, kommt irgendwo aus seinem Inneren dieses verschmitzte Lächeln, das ihn so einzigartig macht.
"Walter will's wissen", sagen sie in den Kammerspiele über ihn. Denn Hess lässt sich mit kindlicher Freude auf jedes Experiment ein. Eitelkeit hält er für "extrem überbewertet". Er stellt sich in den Dienst der Sache. Im Ensemble der Kammerspiele ist Walter Hess der Älteste, seit er 2002 zu Frank Baumbauer nach München kam.
Gekommen, um zu bleiben
Er blieb unter der Intendanz von Johan Simons, Mathias Lilienthal und jetzt unter Barbara Mundel. Andere folgen einem Intendanten an ein neues Haus, Walter Hess ist gekommen, um zu bleiben: Weil er so immer wieder neues Theater erlebt. "Ich begreife meine Arbeit als eine ständige Weiterentwicklung", sagt er darauf angesprochen. "Wenn ein Theater gesellschaftlich ausgerichtet ist, bedeutet das ja immer eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart." In Luzern, wo er herkommt, hat er die Laien-Spielschar gesehen, wie sie Nestroys "Lumpazivagabundus" gespielt haben. Er war fasziniert, erinnert sich an ein "totales Vergessen von allem, was um mich herum war." Wo alles verhalten war, war das Theater ein emotionales Aufbäumen.

Hess machte eine Buchdruckerlehre, ging in die Rekrutenschule und dann nach Zürich. Halbtags arbeitete er als Buchdrucker, er nahm Schauspielunterricht. Später fuhr er durch Deutschland, unternahm auf eigene Faust eine Vorsprechreise. Vom Münztelefon am Bahnhof aus rief er im jeweiligen Theater an, fragte, ob sie "eine Vakanz" hätten - und sprach bei einigen Bühnen vor. Er machte eine Regieassistenz in Konstanz, legte die Bühnenreifeprüfung in Stuttgart ab - und bekam sein erstes Engagement in Konstanz.
Frank Baumbauer holte ihn nach München
Er spielte am Schauspielhaus Zürich und dem Theater Basel, führte mit anderen im Kollektiv das Zürcher Theater an der Winkelwiese als "Diskussionsort zu Fragen der Zeit sein". Später spielte er in Bonn, wo er einem Regisseur begegnete, der wesentlich wurde für ihn: Andreas Kriegenburg. Er war unter Ulrich Khuon in Hannover und unter Christoph Marthaler am Zürcher Schauspielhaus. Von dort holte ihn Baumbauer nach München.
Walter Hess ist einer, der sich nie in den Vordergrund spielt, aber einer, der immer fehlen würde. Ein Ensemblespieler. Der mit seiner Konzentration, seiner Präsenz und seinem leisen Humor eine Produktion zusammenhält. In Christoph Marthalers "Tiefer Schweb" übernahm Hess 2017 den Vorsitz einer merkwürdigen Delegation, die in einer Kapsel tief unten im Bodensee das Flüchtlings-Problem lösen soll. In Emre Akals "Göttersimulation" tauchte er als orientierungsloser Alter in weißen Tennisshorts in eine digitale Parallelwelt ein, suchte sich mit VR-Brille ausgerüstet einen Weg durch die virtuelle Realität, die ewige Jugend verspricht.
Ihn kennen heißt ihn lieben
Wie recht hat seine Kollegin Annette Paulmann, die ihn bei der Verleihung des Münchner Theaterpreises vor zwei Jahren einen Schauspieler nannte, "der sich scheinbar mühelos den unterschiedlichsten Herausforderungen des zeitgenössischen Theaters stellt." Dass sein Geburtstag am Internationalen Frauentag gefeiert wird, dürfte ihn zusätzlich freuen. Denn Walter Hess ist nicht nur ein großartiger Schauspieler, er ist auch ein Charmeur. Ihn kennen heißt ihn lieben.