TV-Doku über die Münchner Kammerspiele: Nach allen Seiten offen

Wie schnell doch die Zeit vergeht: Die Ära Matthias Lilienthal an den Kammerspielen fand gerade mal vor einem halben Jahr ihr Ende, aber es kommt einem doch schon wie eine halbe Ewigkeit vor.
Der 45-minütige BR-Dokumentarfilm "Kammerspiele - Jammerspiele" von Chiara Grabmayr und Juno Meinecke frischt die Erinnerung noch einmal auf, katapultiert einen sogar ins Jahr 2013 zurück, als bereits klar war, dass Lilienthal das Haus von seinem Vorgänger Johan Simons übernehmen wird.
Da sitzt er dann da, Lilienthal beim Interview im September 2013, die Arme verschränkt wie eh und je, was man als Abwehrhaltung deuten kann, als ein Bei-Sich-Bleiben, während er sich verbal doch gerne aus dem Fenster lehnt. Er mache immer das, was er nicht kann, sagt Lilienthal, und die Arbeit mit dem Ensemble, ja, Stadttheater an sich habe er verlernt, also wolle er genau das jetzt tun und dabei die Internationalisierung des Hauses und Durchmischung mit der freien Szene vorantreiben.
Lilienthal: Der "bestgehassteste Mensch der Stadt München"
Fast sieben Jahre später sitzt Lilienthal in einer Sendung des Südwestdeutschen Rundfunks, die Arme erneut verschränkt, und resümiert seine Intendanz: "Die ersten drei Jahre war ich der bestgehassteste Mensch der Stadt München. Das Münchner Bürgertum war sauer darüber, dass ihr Lieblingswohnzimmer von so einem Berliner Heini weggenommen wurde." Die schlechte Stimmung schlug laut Lilienthal erstmals um, als die Kammerspiele an der "Ausgehetzt"-Demo im Sommer 2018 teilnahmen: "Dann hat die CSU mir einen Gefallen getan" – denn sie wollte die Teilnahme verbieten.
Was alles noch in den fünf Jahren geschah, zeigt der Film im Schnelldurchlauf: Archivmaterial, Presse-Schlagzeilen aus dem Internet, Interview-Schnipsel. Danach widmet sich Grabmayr in zwei "Akten" zwei exemplarischen Inszenierungen der letzten Spielzeit unter Lilienthal: der ironisch betitelten "Opening Ceremony", die Toshiki Okada im Sommer 2020 zum Finale im Olympiastadion inszenierte, und Leonie Böhms Inszenierung "Die Räuberinnen", die vor und hinter den Kulissen (fast) ausschließlich von Frauen bestritten wurde.
Im letzten, dritten Akt porträtiert Juno Meinecke Regisseurin Anta Helena Recke, die mit ihrer "Schwarzkopie" von "Mittelreich" als auch dem Projekt "Die Kränkungen der Menschheit" zum Berliner Theatertreffen 2016 bzw. 2020 eingeladen wurde. Interviewpartner sind dabei vor allem die Ensemblemitglieder. Eva Löbau erzählt auf dem Rasen des Olympiastadions, dass sie eigentlich nie in ein Ensemble wollte, sich aber von der politischen Ausrichtung des Hauses angezogen fühlte und zu einem Zeitpunkt ins Team kam, als die größten Stürme vorbei waren. Oder das Frauen-Quintett von "Die Räuberinnen" zeigt sich als Truppe, die sich offenbar auch privat gut versteht und in der Garderobe unter anderem darüber nachdenkt, wie der männliche Blick auf den weiblichen Körper sich auch in ihren eigenen Köpfen eingenistet hat.
Zu wenig analytischer Dokumentarfilm
Das Ensemble der Kammerspiele zeigt sich hier als harmonisches Team. Und ja, das Haus war unter Lilienthal offen, divers und international aufgestellt. Die Offenheit dieses Films hat aber Grenzen: Grabmayr und Meinecke beschränken sich auf die Innenperspektive; das Münchner "Bürgertum" kommt genauso wenig zu Wort wie Presse oder Politik.
Stattdessen parodiert Anta Helena Recke nicht nur Lilienthal liebevoll, die Arme verschränkt, sondern nimmt sich herrschaftlich kostümiert auch die Journaille vor: Das weiße Kritiker-Etablishment maßte sich ja an, Meinungen über ihre Stücke abzudrücken und entblößte sich dabei in seinen verinnerlichten Ressentiments selbst.
Da ist was dran. Aber einige Stimmen von außen hätten diesem in seine Akte zerfallenden, zu wenig analytischen und letztlich hermetisch auf der Fanseite stehenden Dokumentarfilm gut getan.
BR Fernsehen, Dienstag, 22.50 Uhr