Kritik

"Turbovolk3000" im HochX: Ekstase, Exzess, Eskapismus

Über den Schutt der Vergangenheit hinweg: Die Live-Radio-Show "Turbovolk3000" im HochX.
von  Michael Stadler
Ivan Markovic spielt den Radiomoderator.
Ivan Markovic spielt den Radiomoderator. © Sandra Singh

München - Die rote Schrift auf dem LED-Display läuft unentwegt durch, befeuert das Auge mit Worten, besonders mit diesem einen Wort, das sich regelrecht ins Gehirn einhämmert: Turbofolk! 

Alles fließt in diesen Begriff hinein: Alkohol ist Turbofolk, Coca-Cola ist Turbofolk, der ganze Konsum ist Turbofolk. Und wir sind das Turbovolk, zumindest im HochX, was schon eine freche Vereinnahmung ist.

Aber im rasanten Tempo der Lieder und der Moderation von Ivan Markovic wird man unweigerlich mitgerissen, alle Bedenken und Sorgen werden weggefegt, weil das ja auch zu den Zielen dieser Musik gehört: Ekstase, Exzess, Eskapismus! Eine Live-Radio-Show legt Markovic, derzeit Schauspiel-Student an der Theaterakademie August Everding, hin und zwar unter vollem Einsatz seines Charmes und flinken, tanzbereiten Körpers.

Den Sound kann man getrost billig nennen

Das Konzept haben Regisseur Demjan Duran und Dramaturgin Gina Penzkofer entwickelt, und das macht schon Sinn, eine Radio-Sendung mitsamt Nachrichten, Wetterbericht, Gewinnspiel und vor allem Musik zu inszenieren, weil der Turbovolk nun mal in erster Linie ein akustisches Vergnügen ist.

Den Sound kann man getrost billig nennen: So simpel sind die Harmonien, so eingängig die Techno-Beats, so mainstreamig ist diese Mischung aus westlicher Pop-Rock-Musik und orientalischen Klängen.

Die Verwurstung von allem, was irgendwie gut ins Ohr und Bein geht, hat ihren Ursprung in den späten 1970ern und wurde gerade in Zeiten der Jugoslawienkriege populär, wie man von Moderator Markovic in einem kurzen historischen Abriss erfährt.

Zuvor förderte der Staat bravere, akustische Volksmusik mit der Absicht, durch süße Heimatklänge den Mehrvölkerstaat Jugoslawien in Harmonie zu vereinen. Nach dem Tod Titos 1980 begann jedoch der Zerfall. Das hereinbrechende Chaos spiegelte sich im Turbofolk wider, der alle möglichen Trends in sich aufnahm und zusammengemixt wieder ausspuckte.

Der Turbofolk dient der Angstverdrängung 

In den Texten versteckte sich dabei nur selten politischer Zündstoff. Vielmehr diente der Turbofolk der Angstverdrängung und Realitätsflucht. Weg von den Bomben, weg vom Krieg, rein in den Club. Statt inne zu halten raste Ivan Gavrilovic lieber mit "200 km/h" über die Autobahn und ließ die Leute tanzen.

Oder Tina Ivanovic träumte von Liebe und Luxus: "Wenn du Eier hast, wenn du ein Herz hast, schenke mir einen Nerzmantel!", singt sie in ihrem Hit "Bunda od Nerca". Das Original ertönt aus den Boxen, das Lesen der Übersetzung im Hintergrund gehört zu den stillen Genüssen dieser einstündigen Performance.

Der Turbofolk ist vom kapitalistischen Konsumgeist durchtränkt

Demjan Duran und Gina Penzkofer machen sich nicht lustig über diese Musik, da steckt schon Liebe drin und ein politisches Anliegen, das jedoch etwas vage bleibt.

Der Turbofolk war vom kapitalistischen Konsumgeist durchtränkt und preschte über jedes Leiden hinweg - das wird auf jeden Fall deutlich. Und wenn Ivan Markovic einen Haufen CDs aus einer Schubkarre auskippt, ergibt sich auf dem Boden ein Bild kriegerischer Verwüstung. Über den Schutt spaziert er drüber, droht dabei auszurutschen.

Was bleibt, ist ein wackliges Gefühl geglückter Integration

Und er singt selbst am Akkordeon, herzig-zart, "Nikotin" von Nataša Bekvalac. Ach, gerne würde sie wie eine filterlose Zigarette an den Lippen ihres Ex-Lovers hängen, was für ein reizendes Bild. Markovic streut Werbung ein, für Panzer oder blauweiße Häkeldeckchen. Patriotismus überall, natürlich auch in Bayern. Was bleibt, ist ein wackliges Gefühl geglückter Integration. "Freude, schöner Götterfunken" erklingt zuletzt im Turbofolk-Sound, ein hübsches Beispiel für das Verschmelzen europäischer Hochkultur mit Euro-Trash.

Ivan Markovic raucht noch eine - ein Performer, geboren in Bosnien und Herzegowina, angekommen auf einer deutschen Bühne. Die Zigarettenspitze hat noch Feuer, glimmt wie eine letzte Erinnerung, während er und das Schlachtfeld um ihn herum in Dunkelheit versinken.


HochX, Entenbachstraße 37, weitere Vorführungen heute (Samstag) und morgen (Sonntag), 20 Uhr, www.theater-hochx.de

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