"Tootsie"-Musical in München: Eine Hommage an das Theater

AZ-Interview mit Gil Mehmert: Geboren 1965 in Werne, Nordrhein-Westfalen. Er studierte Regie an der Theaterakademie August Everding. Er inszenierte am Metropoltheater und spezialisierte sich später auf Musical-Regie. Am Gärtnerplatz brachte er "Hair" und "Priscilla" heraus.
München - In Sidney Pollacks Travestie-Komödie "Tootsie" spielte Dustin Hoffman 1982 einen erfolglosen Schauspieler, der sich als Frau verkleidet, um an eine Rolle zu kommen. David Yazbek und Robert Horn verwandelten den Filmstoff in eine Musical Comedy, die der Broadway-Erfolg des Jahres 2019 war und der nun als Europäische Erstaufführung in München zu sehen ist. Armin Kahl singt und spielt die Hauptrolle, Gil Mehmert inszeniert.
"Warnendes Damokles-Schwert": Darf man nur noch spielen, was man selber ist?
AZ: Herr Mehmert, ist die Travestie-Idee nicht ein wenig in die Jahre gekommen?
GIL MEHMERT: Ja und nein. Die Grundproblematik, dass ein Mann eine Frau spielt, ist angesichts der Debatte, inwieweit das Geschlecht eine soziale Rolle ist, durchaus brisant. Außerdem gibt es heute Diskussionen darüber, dass man nur noch spielen darf, was man selber ist. Das wird in diesem Musical von den Autoren auch abgefangen und schwebt als warnendes Damokles-Schwert über der Figur.

Dustin Hoffman spielte die Rolle in meiner Erinnerung schon ziemlich tuntig.
Das ist leider auch ein Problem der deutschen Synchronisation, die das alles in Richtung Karneval verzerrt. Bei uns geht der Typ Frau, der bei dieser Verkleidung entsteht, in die Richtung einer etwas herberen Best-Agerin. Wir haben versucht, das geschmackvoll anzupassen und trotzdem im Rahmen einer Komödie zu bleiben, ohne gleich den Eindruck von "Charleys Tante" entstehen zu lassen.
Was bedeutet eigentlich der Name "Tootsie"?
Das ist ein Slangwort, das in etwa "Schätzchen" bedeutet und vom Namen Dorothy abgeleitet ist. Denn in der Geschichte gibt sich der Schauspieler Michael Dorsey als Dorothy Michaels aus. Er nimmt an einem Casting für eine Frauenrolle teil und bekommt sie. In diesem neuen Gewand werden alle Eigenschaften, die sonst dazu führen, dass ihm niemand zuhört, plötzlich interessant.
Gil Mehmert: "Alles endet schließlich in einem offenen Desaster"
Im Film tritt Michael Dorsey in einer Soap Opera auf.
Das Musical ersetzt das durch das eigene Business. Das ist stärker als im Film und verändert auch das Stück durch feministische Impulse. Weil sich alle in dieser Kunstfigur spiegeln, wird sie zu einem Katalysator, der alle ihre festgefahrenen Rollenbilder überdenken lässt. Alles endet schließlich in einem offenen Desaster.
"Die Nebenfiguren wurden in ihren Positionen geschärft"
Gibt es größere Unterschiede zur Handlung des Films von Sidney Pollack?
Die Geschichte spielt in der Gegenwart. Es wird viel stärker betont, dass sich ein Mann anmaßt, einer Frau die Rolle wegzunehmen. Grob gesagt, handelt es sich um das, was man heute als "kulturelle Aneignung" beschreiben würde. Außerdem ist es eine schöne Sache am Musical, dass die Nahaufnahme im Film durch die gesungene Innenschau in Form einer Ballade ausgedehnt werden kann. Außerdem wurden hier die Nebenfiguren in ihren Positionen geschärft.
Gil Mehmert: "Das Orchester ist eine bläserstarke Rockband"
In der Filmfassung wird Tootsie von einem älteren Schauspieler belästigt und vom verwitweten Vater seiner Kollegin verehrt.
Beides wurde auf eine Figur verdichtet: einen jüngeren Spielpartner, der in der Reife der älteren Frau eine Attraktion sieht.
Wie muss man sich die Musik vorstellen?
Das Orchester ist eine bläserstarke Rockband. Die Musik klingt nach Broadway und Las-Vegas-Entertainment.
Mehmert: "Ich bin ein distanzierter katholischer Westfale und zugleich ein Hitzkopf"
Was sagen Sie als Regisseur zur Backstage-Comedy? Trägt dieses Theater auf dem Theater Spuren von Wahrheit in sich?
Es ist überzeichnet, aber auch nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Leute, die mich kennen, werden vielleicht sagen, ich hätte mich als Regisseur selbst ironisiert. Aber dieser eitle Typ, der allen auf den Geist geht, stand so im Buch.
Der Typ des übergriffigen Polter-Regisseurs scheint auszusterben.
Der Regisseur in "Tootsie" ist ein Egomane, und dieser Typus des älteren weißen Mannes wird hier durch den Kakao gezogen - auch vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte. Ich bin ein distanzierter katholischer Westfale und zugleich ein Hitzkopf. Aber ich habe schon früh bemerkt, dass es nicht viel bringt, die Leute mit Berserkertum zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen zu wollen.
Gil Mehmert: "Ich habe zu meiner Frau ein sehr emanzipiertes Verhältnis"
Ihre Frau Bettina Mönch passt auf Sie auf - sie spielt die Rolle der Julie.
Ich habe zu meiner Frau ein sehr emanzipiertes Verhältnis, das unsere Debatten über Männer- und Frauenbilder auf das Schönste und Humorvollste befruchtet. Sie ist eine "Emma"-Abonnentin der frühen Stunde und zugleich - auf ihre Weise - eine große Männerversteherin. Manches empfinden wir beide als politisch inkorrekt, obwohl wir beide als Theatermenschen einen ironischen und spielerischen Zugriff dem Ernst vorziehen.
In den letzten beiden Jahren ging es dem Musical pandemiebedingt nicht so gut. Wie war diese Zeit für Sie?
Ich war durch meine Professur an der Folkwang Universität in Essen abgesichert und anfangs nicht undankbar für eine gewisse Zeit der Ruhe. Ich kann mich nicht beschweren, aber für viele Kollegen war es hart. "Tootsie" ist auch eine Hommage an die Leute, die sich im besonderen dem Theater und der Kultur allgemein verschrieben haben und sich auf das damit verbundene unstete Leben einlassen.
Die Pandemie hat viele Lebensentwürfe in diesem Bereich ausgehebelt.
Auch in staatlichen und städtischen Theatern arbeiten in Musical-Produktionen überwiegend Freiberufler. Die Schwierigkeiten sind nicht zu Ende, weil sich Omikron oder neuere Varianten nicht ohne weiteres durch Impfen und Masken eindämmen lassen. Bis heute ist nicht immer geklärt, ob und wie honoriert wird, wenn wegen Infektionen eine Show ausfallen muss. Auch die Theaterleitungen sind unsicher.
Man hört immer wieder von Musical-Darstellern, die den Beruf wechseln.
Das stimmt. Musical braucht überwiegend jung, fitte, dynamische Darsteller - ähnlich wie beim Tanz. Jeder steht ab einem gewissen Alter vor der Frage, ob er innerhalb des Theaters auf eine andere Position wechselt oder einen Beruf wählt, der auf andere Weise mit Körper, Stimme oder Atem zu tun hat. Da war Corona sicher ein Beschleuniger.
Auch das Publikum scheint zu zögern.
Ich betreibe Musical sicher nicht als reinen Eskapismus. Aber ich merke, dass sich die Besucher freuen, im Theater in eine andere Welt eindringen zu können. Und das ist etwas, was - neben dem Film - eine Stärke dieser Gattung ist: Dass sie Geschichten erzählt, ohne sie gleich vordergründig zu interpretieren.
Premiere am Donnerstag, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen am 9., 10., 13., 21. und 24. Juli. Karten unter gaertnerplatztheater.de und Telefon 089/21851960