Tobias Kratzer: "Auf dem Weg zum Cliffhänger"
Wagners Opernvierteiler ist das Renommierstück aller Intendanten und Generalmusikdirektoren. Daher ist gut ein Jahrzehnt nach der Neuinszenierung des "Ring des Nibelungen" durch Andreas Kriegenburg an der Bayerischen Staatsoper wieder eine neue Version dieses Hauptwerks in München fällig. Am Sonntag hat der erste Teil, "Das Rheingold" Premiere im Nationaltheater. Vladimir Jurowski dirigiert, Tobias Kratzer verantwortet die Inszenierung.
AZ: Herr Kratzer, nach meiner Beobachtung gibt es alle 25 Jahre eine stilbildende Neuinszenierung der Tetralogie. Nach Patrice Chéreaus Bayreuther "Jahrhundert-Ring" und dem Stuttgarter "Ring" mit vier Regisseuren von 1999 wäre es nun wieder so weit. Schaffen Sie das?
TOBIAS KRATZER: Bei Stuttgart muss man die Einzelteile schon differenzierter betrachten, finde ich, auch wenn die Idee mit den vier Regisseuren ein Coup war. Chéreau bleibt natürlich wichtig. Aber ich bin vorsichtig, mit einem derart großen Anspruch anzutreten. Da sind schon andere dran gescheitert, daher bevorzuge ich ein gesundes Understatement. Außerdem beginnt am gleichen Wochenende die Mailänder Scala mit einem neuen "Ring", auch Calixto Bieito und Barrie Kosky arbeiten an Neuinszenierungen.

Der entscheidende Punkt bei Chéreau war wohl, die Götter nach Wieland Wagners Archetypen als Menschen auftreten zu lassen. Auch die Kapitalismuskritik ist seither nicht wieder verschwunden. Wie ordnen Sie sich da ein?
Als Chéreaus Inszenierung herauskam, war die Verortung in einer frühkapitalistischen Welt des 19. Jahrhunderts etwas Neues. Joachim Herz scheint kurz davor in Leipzig Ähnliches versucht zu haben, aber diese Inszenierung ist weniger gut dokumentiert. Wichtiger finde ich, wie Chéreau die Figuren in lebende und fühlende Wesen verwandelt. Auf der Bühne wurden große, unmittelbar nachvollziehbare menschliche Emotionen gezeigt. Man spürt, dass Wagner ein Dramatiker vom Rang Shakespeares war und nicht nur ein verhinderter Philosoph. Und das ist die nachhaltigere Wirkung von Chéreaus Inszenierung über die postmarxistische Deutung hinaus, die bis heute Bestand hat.
"Für meine Lesart ist wichtig, dass die Götter Götter bleiben"
Die Vermenschlichung der Figuren hat dazu geführt, dass die Götter und Helden allzu menschlich agieren - bis zur Karikatur als Wirtschaftsboss.
Für meine Lesart ist wichtig, dass die Götter Götter bleiben. Sie haben spezifische Problemlagen, die unsereiner nicht hat: etwa die Unsterblichkeit. Das sorgt für Unheil, weil es zu einer lethargischen Untätigkeit führt, die die Lösung von Problemen in die Ewigkeit verschiebt. Insofern sind Götter ein Extremfall dessen, was jeder Mensch empfindet, der ja auch nicht in jedem Moment an seine Endlichkeit denkt. Darüber hinaus empfindet Wotan eine Art kosmischer Angst, dass Unendlichkeit etwas viel Schrecklicheres als Sterblichkeit sein könnte. Dieser Aspekt spielt im "Rheingold" aber noch keine Rolle. Es kommt erst in der "Walküre" ganz zum Tragen.

Erzählen Sie eine durchgehende Geschichte? Oder sind das vier eigenständige Opern?
Zuletzt wurde die Autonomie der Einzelwerke stark betont. Ich halte es für einen Vorzug, dass ich hier an einem Haus mit großen Kapazitäten über längere Zeit an einer Geschichte arbeiten kann: Der "Ring" ist für mich eine große 16-stündige Erzählung. Das "Rheingold" schildert den Grundkonflikt, wie ein Sterblicher auf vielfache Weise gedemütigt wird - erst von den Rheintöchtern, dann von den Göttern. Und wie ein Gott mit seiner eigenen Position hadert und wie sich die beiden ineinander verhaken.

Also der Konflikt zwischen Wotan und Alberich.
Der wird nirgendwo später mehr so direkt ausgesprochen. Man erfährt immer so nebenher, dass Alberich ein Heer gegen Wotan rüstet und dieser Gegenmaßnahmen ergreift. Das ist ein Strang, der verdeckt bleibt. Denn wenn Alberich wieder auftaucht, ist er nur eine Art Lonely Rider oder ein Schreckgespenst. Auch Wotan tritt - abgesehen vom dritten Akt der "Walküre" nur allein auf, obwohl wir von Waltraute erfahren, dass dieses Heer in Walhall herumsitzt.
"Mich interessiert, wo Wagner an heutige Debatten anknüpfungsfähig oder politisch interessant ist"
Im "Rheingold" stellt Wagner den Regisseur vor allerlei Probleme: Unterwasserszenen, eine Götterburg, ein Regenbogen. Was macht man damit
Eine solche Checkliste gibt's bei jeder Wagner-Oper. Und in meiner "Ring"-Inszenierung soll auch alles drin sein: billige Theatereffekte wie Verwandlungen im Nebel, aber auch etwas elaboriertere Wirkungen. Aber so viel kann ich verraten: Speer und Helm wird es geben. Ich bin da nicht dogmatisch. Und auch ich in der ersten Szene gibt es beim Erscheinen des Goldes schon Magie. Denn es ist bei Wagner eine gleichsam beseelte Materie. Und das sollte man auch sehen.

Wann begann Ihre Beziehung zu Wagner?
Als Jugendlicher. Sie hat sich durch die Arbeit als Regisseur intensiviert. Ich war wohl nie ein sich allem hingebender Wagnerianer. Zwar habe ich mich auch durch seine Schriften durchgearbeitet, aber ich finde seine Prosa eher ungelenk. Und dann hat Wagner seine abscheulichen Seiten wie den entsetzlichen Antisemitismus, seinen Nationalismus und die Idee der Erlösung durch den Opfertod der Frau. Das muss man natürlich mitreflektieren, aber wenn man es als Einziges nach vorne stellt, braucht man ihn nicht zu inszenieren. Mich interessiert, wo Wagner an heutige Debatten anknüpfungsfähig oder politisch interessant ist - mit kritischem Blick.

Was war Ihr erster "Ring"?
Die letzte Serie des Lehnhoff-"Ring" in München. Außerdem der Zehelein-"Ring" der vier Regisseur in Stuttgart.
"In meinen Inszenierungen ist da noch nie alles gesagt"
Ihr Bayreuther "Tannhäuser" arbeitet viel mit Videos. Spielt das auch beim "Rheingold" eine Rolle?
Dosiert. Wir haben vier Minuten 50 Sekunden Videos. Im weiteren Verlauf des "Ring" wird es mal mehr und mal weniger geben - je nach der Notwendigkeit des Erzählens.
Fallen Sie nach dem "Rheingold" jetzt in ein Loch? Die "Walküre" folgt, so hört man, erst am Ende der kommenden Spielzeit.
Ich würde jetzt gerne gleich nach dem Cliffhanger des "Rheingold" den Vorhang für die "Walküre" wieder öffnen, weil ich den "Ring" als eine große Erzählung sehe. Und viele wichtige Punkte kommen im "Rheingold" noch gar nicht vor. Eigentlich ist das erst der erste Akt. Und in meinen Inszenierungen ist da noch nie alles gesagt.
- Themen:
- Bayerische Staatsoper
- Richard Wagner