Timofej Koljabin über "Am Kältepol" nach Warlam Schalamow

Wo es wirklich kalt ist: Der Russe über niedrige Temperaturen und seine Inszenierung „Am Kältepol“ im Cuvilliestheater
Robert Braunmüller |
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Eine Szene aus "Am Kältepol von Regisseur Timofej Kuljabin.
Eine Szene aus "Am Kältepol von Regisseur Timofej Kuljabin.

Die Kolyma ist eine Region im äußersten Osten Sibiriens. Hier „am Kältepol“, war Warlam Schalamow von 1937 bis 1951 als politischer Gefangener inhaftiert. Hier musste er, dem Tod meist näher als dem Leben, in Steinbrüchen und Goldminen Zwangsarbeit leisten. Nach der Entlassung schrieb er seine schonungslosen „Erzählungen aus Kolyma“, die der russische Regisseur Timofej Kuljabin im Cuvilliéstheater auf die Bühne bringt.

AZ: Ein Rokoko-Theater und der Zusammenbruch aller humanen Werte in einem Straflager am Ende der Welt – ist das ein Gegensatz, den Sie absichtlich gesucht haben?
TIMOFEJ KULJABIN: Ich habe die Kolyma-Geschichen dem Staatsschauspiel als Stoff vorgeschlagen, und es war mir von Anfang an klar, dass wir hier spielen.

In der ersten Erzählung graben zwei Häftlinge eine Leiche aus, um an die Unterwäsche zu kommen, die sie im Lager verkaufen wollen. Ist das wirklich darstellbar?
Dieser Text ist in meiner Auswahl von insgesamt sechs Erzählungen enthalten. Ich habe versucht, für jede von ihnen eine eigene stilistische Form zu finden.

Ich habe selten so etwas so Pessimistisches gelesen wie diese Erzählungen.
Es sind harte Texte. Die nimmt auch der russische Leser so wahr. Die „Geschichten aus Kolyma“ beschreiben das Leben in einem stalinistischen Straflager. Sie handeln in aller Alltäglichkeit von extremen Situationen wie Mord, Totschlag, Leichenfledderei, extremen Hunger und extremer Kälte. Schalamow beobachtet, was im Lager mit den Menschen und zwischen den Menschen passiert. Die Sprache, in der das beschrieben wird, ist lakonisch und kalt, als sehr bewusst gesetztes Stilmittel.

Lässt sich das überhaupt auf die Bühne bringen?
Ich wollte das machen, gerade weil es eine Herausforderung ist. Aber es war wichtig, eine besondere theatralische Form dafür zu finden. Die Umstände, in denen diese Geschichten spielen, lassen sich nicht realistisch im Theater rekonstruieren. Die Gefangenen – bei Schalamow allesamt Männer – werden in meiner Inszenierung von Frauen gespielt. Auf der Bühne steht ein Kühlcontainer. Was die Schauspielerinnen drinnen machen, wird mit Hilfe einer Kamera nach draußen übertragen. Das alles funktioniert als ästhetischer Filter, um Distanz zu schaffen.

Eine Szene aus "Am Kältepol von Regisseur Timofej Kuljabin.
Eine Szene aus "Am Kältepol von Regisseur Timofej Kuljabin.

Eine Szene aus "Am Kältepol von Regisseur Timofej Kuljabin. (Foto: Matthias Horn)

Schalamows „Geschichten aus Kolyma“ erschienen in einer Auswahl bereits 1975 in Deutschland, bekannter wurden sie erst durch die Neuübersetzung von Gabriele Leupold vor 10 Jahren. Werden die Texte in Russland gelesen?
Schalamow war auch für uns ein großer Unbekannter. Offiziell veröffentlichte er Lyrik. Er lebte im Verborgenen, nur sein engstes Umfeld wusste, was er schrieb. Einzelne Texte kursierten wohl im Untergrund als Samisdat-Literatur. Verlegt wurden die „Geschichten aus Kolyma“ erst 1989. Seither gilt er als einer der wichtigsten russischen Schriftsteller der Nachkriegszeit.

In Russland wird die Stalin-Zeit teilweise glorifiziert. Wäre die Münchner Aufführung auch in Ihrem Theater in Nowosibirsk möglich?
Ja.

Sie wurden bei uns bekannt durch einen Skandal um eine Inszenierung von Wagners „Tannhäuser“ in Nowosibirsk. Was war da los?
Funktionäre der russisch-orthodoxen Kirche beschwerten sich bei staatlichen Stellen wegen angeblicher Gotteslästerung. Sie kannten die Aufführung allerdings nur vom Hörensagen und hatten sie nie gesehen.

Wie verständigen Sie sich bei den Proben mit den deutschen Schauspielern?
Das läuft professionell. Wir sprechen englisch. Es ist auch eine Dolmetscherin anwesend. Die Kommunikation ist kein Problem.

Liegt der Schwerpunkt Ihrer Arbeit bei der Oper oder beim Schauspiel?
Theater überwiegt, Opern inszeniere ich erst seit vier, fünf Jahren. Aber ihr Gewicht wächst. Demnächst inszeniere ich Dvoráks „Rusalka“ am Bolschoi-Theater in Moskau, Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in Nowosibirsk und Ibsens „Nora“ in Zürich.

In München war es letzte Woche ungewöhnlich kalt. Wie gehen Sie in Nowosibirsk mit noch tieferen Temperaturen um?
Die Kälte hier und dort ist sehr unterschiedlich. Minus 15 Grad erträgt man in Nowosibirsk leichter als in München, weil die Luft in Sibirien sehr trocken ist. Trockene Kälte erträgt man leichter.   

Premiere Sa., 3. März, 19.30 Uhr im Cuvilléstheater, Publikumsgespräch mit Kuljabin um 18.30 Uhr. Schalamows „Geschichten aus Kolyma“ bei Matthes & Seitz

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