Timocin Ziegler spielt "Schöne Neue Welt"

Utopie und Dystopie liegen, allein, was die beiden Worte angeht, nahe beieinander. Mit „Schöne Neue Welt“ hat der englische Schriftsteller Aldous Huxley im Jahr 1932 eine pessimistische Zukunftsvision vorgelegt, eine Dystopie, die zum Klassiker wurde. Der Titel des Buchs – im Englischen: „Brave New World“ – wurde zum geflügelten Wort, stets einsetzbar für vermeintlich glücksbringenden Fortschritt.
Einen einzigen Weltstaat imaginiert Huxley in seinem Schlüsselwerk, ein totalitäres Regime, dessen Bewohner allesamt in staatlichen Brutstätten künstlich gezeugt werden und daraufhin konsequent durch Indoktrination auf eine hedonistische Linie gebracht werden. Ständiger Konsum und promiskuitiver Sex stehen auf der Tagesordnung. Gefühle sollen vermieden werden – als Allheilmittel gegen aufkommende schlechte Laune dient die Droge Soma, die alle regelmäßig willfährig einnehmen.
Begrenzte Lebensdauer
Da Wohlstand für alle nicht durchsetzbar ist, herrscht ein Kastenwesen, das von hohen Alpha-Menschen bis zu niederen Epsilon-Menschen reicht, wobei niemand seinen Status quo in Frage stellt. Klingt alles schlimm – aber auch verführerisch. Auch Timocin Ziegler kann Positives in Huxleys bösem Zukunftsentwurf entdecken: „In dieser Welt gibt es keine Gewalt mehr, keinen Krieg, keine Not. Die Menschen bleiben lange fit, haben aber eine begrenzte Lebensdauer. Man wird 60, dann ist es vorbei. Und die Leute sind d’accord damit! Der Plan geht auf, ja, bring’ erstmal einen Gegenvorschlag!“
Einen Anti-Helden hat Huxley in dieses Universum hineingesetzt: den Alpha-Mann Bernard Marx, der wegen eines Fehlers in seiner Herstellung etwas unterentwickelt aussieht, nicht richtig hineinpasst in die Schöne Neue Welt. Ziegler spielt nun diesen Marx in Felix Hafners Adaption des Stoffes im Volkstheater und empfindet diesen Helden zwar als jemand, der sich als Identifikationsfigur anbietet, aber doch wacklig auf den Beinen steht: „Er würde gerne was verändern, aber schafft es alleine nicht.“
Ein Gegenentwurf zum herrschenden System
Gemeinsam mit der Beta-Frau Lenina macht sich Bernard auf den Weg in eins der Reservate in New Mexiko, die in abgetrennten Bezirken liegen und in denen „Wilde“ leben, die noch einen herkömmlichen Lebensstil führen. Es gibt also einen Gegenentwurf zum herrschenden System, „aber die stehen für die alte Welt, die fühlen und weinen und sind doch auch keine wirkliche Alternative.“ Bernard bekommt wegen seines Trips Probleme mit seinen Arbeitgebern, bringt aber glücklicherweise einen der Wilden, John, mit, der sich als geheim gehaltener Sohn des Direktors des Aufzuchtzentrums erweist, in dem Bernard und Lenina arbeiten. Bernard nutzt seine Nähe zu John, um sein eigenes Image aufzupolieren. Endlich darf er auch mit vielen Frauen schlafen. Der Rebellionsgeist versiegt kläglich.
Als Außenseiterfigur hat Bernard Marx Ähnlichkeit mit dem griechischen Gastarbeiter Jorgos, den Timocin Ziegler in Abdulla Kenan Karacas Adaption des Fassbinder-Films „Katzelmacher“ spielte. Als Fremder in der dumpfen Münchner Vorstadt sieht sich Jorgos mit einem Fremdenhass konfrontiert, dem er sich kaum erwehren kann.
Ziegler, der selbst 1986 im niederbayerischen Eggenfelden geboren wurde, spielte diese Figur mit einer aufrechten Ruhe und einnehmenden Präsenz, die beeindruckte – und in Kontrast steht zu dem jungen Mann, der sich beim Interview im Biergarten vor dem Volkstheater eine Zigarette dreht und zwischen den Gedanken springt, so dass der Eindruck eines charmanten Drifters und spontanen Lebenskünstlers entsteht.
Ein Hotel als krasse Bühne
Nach der Schule wusste er erstmal gar nicht, was er machen sollte, erzählt Timocin Ziegler, dessen Name türkische Wurzeln hat. Dann schlug ihm ein Onkel, der selbst nebenbei als Nachtportier arbeite, eine Hotellaufbahn vor. „Sind nur drei Jahre, klatsch das mal hin, meinte er, dann hast du etwas.“ Ziegler lernte erstmal im Hotel Achat in Schwabing. Als das aufgekauft wurde, landete er in einem Intercity-Hotel, später im Hotel Drei Löwen, dann in einem Hotel der Kette Fleming’s.
Am Empfang sei er da gestanden, und die Arbeit als Nachtportier habe ihm gefallen, allein schon wegen des Gehaltsbonus, den er gut brauchen konnte, schließlich hatte er mit seiner damaligen Freundin früh ein Kind bekommen.
„Krasse Bühne“, meint Ziegler auf die Frage, wie es im Hotel war. Und erinnert sich an Trennungstragödien, besonders während der Wiesnzeit, an russische Oligarchen, „die nur so mit dem Geld um sich warfen“, und Frauen, nur umhüllt von einem Bettlaken, „die vor dir an der Rezeption stehen und darauf bestehen, dass der Fernseher nicht geht.“ Mit seiner Kleinfamilie ging es eines Tages raus aufs Land. Ziegler machte Pause, kümmerte sich um sein Kind – und kam zufällig zum Theater.
Die Zukunft ist offen
In der Zeitung las er davon, dass für ein Shakespeare-Projekt im Stadeltheater Lauingen, einem Örtchen im schwäbischen Donautal, noch Darsteller gesucht wurden. Er traf den Regisseur, Norbert Mahler, erfuhr dann, dass doch schon alle Rollen für „William Shakespeare geschüttelt“ besetzt waren. Immerhin: Er bekam eine Stelle als Regieassistent. Und Mahler entdeckte Zieglers Schauspieltalent, übte mit ihm Monologe ein und ermunterte ihn zu einer Theaterkarriere.
Ziegler sprach einmal an der Otto Falckenberg Schule vor, landete an der Neuen Münchner Schauspielschule, um nach eineinhalb Jahren an die Berliner Ernst Busch zu wechseln. Nach vier Jahren Studium hat er nun am Volkstheater sein erstes festes Engagement und beweist seine Variabilität in diversen Rollen. In Christian Stückls Inszenierung von Taboris Hitler-Farce „Mein Kampf“ gibt er etwa den Koch Lobkowitz als sehr heiteren Gesellen, der sich mit seiner langen Haarmähne wie Jesus – oder gar Gott – aufführt.
Wie die Zukunft aussieht? Weiß Gott. Ziegler hat keine großartigen Pläne. Es gefällt ihm am Volkstheater. Auf die Frage, ob er selbst eine Utopie für ein besseres Leben habe, hält er lange inne – die Finger, die gerade an der nächsten Zigarette drehen, schweben in der Luft. „Es wäre doch ganz schön, wenn die Leute in München offener für Veränderungen wären. Ein bisschen cremiger. Meine vier Jahre in Berlin haben mich geprägt. Ich denke oft: Sprich’ nicht um den heißen Brei. Hau es einfach raus, auch mal ungefiltert. Ist nicht schlimm. Nicht so viele kleine Semmeln, lasst uns große Brote backen.“
Das klingt tatsächlich für München nach einer verwegenen Utopie. Und ist vielleicht auch: eine Dystopie.
Premiere am 13. Mai, 19.30 Uhr im Volkstheater, weitere Vorstellungen am 14., 18. und 28 Mai sowie im Juni und Juli, Karten online und unter Telefon 523 46 55