Theater im Marstall: De Gaulle, der Krieg und die Liebe

München - Zwischen den Ereignissen und dem Bedürfnis, sie aufzuschreiben, liegen 55 Jahre. Annie Ernaux ist inzwischen eine bekannte Schriftstellerin nicht nur in ihrer Heimat Frankreich und Autorin eines Werks mit autobiografischem Schwerpunkt.
Madame Ernaux sieht sich als "Ethnologin ihrer selbst"
Früher war sie Grundschullehrerin, und als sehr junge Frau hatte sie einen schlechten Ruf. Doch über die Jahrzehnte hinweg wurde, wie sie erzählt, wieder "aus der kleinen Nutte" ein "anständiges Mädchen". Die "Erinnerung eines Mädchens" notierte sie ab 2003, und das Buch erschien 2016, am Vorabend der #Me-Too-Bewegung.
Allerdings schlägt sie einen anderen Ton an als die Aktivistinnen und beobachtet ihr Leben und die Männer, die darin vorkamen, mit einer naturwissenschaftlichen Distanz. Das betrifft sowohl sie selbst als auch das Balz- und Paarungsverhalten der Männer. Madame Ernaux sieht sich als "Ethnologin ihrer selbst", die auch Einzelheiten einer Liebesnacht sehr explizit schildern kann, ohne pornografisch zu werden.
Italienerin Silvia Costa: Regie-Debüt am Residenztheater
Die italienische Regisseurin Silvia Costa gibt mit ihrer Bühnenfassung der "Erinnerung eines Mädchens" im Marstall ihr Regie-Debüt am Residenztheater. Davor war sie in München Mitarbeiterin von Romeo Castellucci bei dessen "Tannhäuser"-Inszenierung.
Die spektakuläre Regiepranke ist allerdings nicht Silvia Costas Sache. In einem stark reduzierten Raum, den sie selbst entwarf, entfaltet sie mit großer Geduld und sehr behutsam die Coming-Of-Age-Geschichte als ein szenisches Hörspiel.
Abstrahierende Choreografien und kleine Ausstellung
Sibylle Canonica, Juliane Köhler und Charlotte Schwab sprechen den auf 90 Minuten gekürzten Text mit hoher Konzentration in eindringlichen Theaterbildern. Den abstrahierenden Choreografien steht eine kleine Ausstellung entgegen, die bei Einlass oder nach der Vorstellung besichtigt werden können.
Die drei Schaukästen präsentieren Memorabilia der drei Darstellerinnen aus ihren frühen Jahren. Dazu gehören Fahrkarten, Eintrittskarten, aber auch Korrespondenz auf Ansichtskarten und in Briefen. Das passt gut zum konkreten, geradezu präzisen Erzählen des "Mädchens von 58", das sehr plastisch das damalige Frankreich beschreibt, in dem sich unter Charles de Gaulle die Fünfte Republik gründete, sich aber auch in einem Krieg mit seiner Kolonie Algerien befand oder in dem Chansons von Dalilah oder Gilbert Bécaud populär waren.
Im Sommer 1958 wird die in einfachen Verhältnissen aufgewachsene und von Nonnen erzogenen Annie entjungfert. Anschließend geht sie auf die Suche, die sie schonungslos reflektiert und aus wechselnden Perspektiven, die sie von den zeitlichen Schichten ihrer Biografie einnimmt, beschreibt. Entstanden ist ein grandioses literarisches Dokument über den Umgang mit eigener Scham.
Marstall, Samstag, 29. Mai, Telefon 809/21851940