"The Land": Jagdszenen im Free-Jazz-Stil
München - Schon unheimlich, wie relativ die Größenverhältnisse sind, wie schnell sie sich verändern können. Auf einer sanft geschwungenen Rasenlandschaft stehen Häuser im Miniaturformat, über die sich im Dunkeln die Darsteller aufbäumen: in ihren Händen Taschenlampen, mit deren Licht sie über die Gebäude schweifen. Dazu hört man das laute Rotieren eines Helikopters. Dann strahlt aus dem Bühnenhimmel ein Scheinwerferlicht von oben auf ein paar Menschen herab. Die Betrachter werden betrachtet, die Machtperspektiven in ein neues Licht gerückt: So schnell können die Großen zu den Kleinen werden.
Ein visuelles, körperliches Spiel mit Dimensionen, Realitäts- und Zeitebenen bringt die belgische, in München durch einige Gastspiele bekannte Tanzcompagnie Peeping Tom in ihrer neuen Produktion auf die Bühne. Im Rahmen des Dance-Festivals fand jetzt im Cuvilliéstheater die Uraufführung statt. „The Land“ öffnet den Blick auf einen ländlichen Mikrokosmos, beherrscht von ganz eigenen Regeln, die sich in verrückten Verschiebungen des Verhaltens manifestieren. Die Menschen haben schon immer den Boden bestellt, aber hier bewegen sie sich auf allen Vieren, rupfen am Gras, konzentriert, animalisch.
Was subkutan rumort, das interessiert Peeping Tom
Laut Programmheft ließ sich Regisseurin und Peeping-Tom-Mitbegründerin Gabriela Carrizo von dem Gemälde „Trickland“ des belgischen Künstlers Michaël Borremans inspirieren: Eine Reihe von Frauen kniet darin rätselhaft vertieft über einer grünen Landschaft. Das Unerklärliche interessiert Peeping Tom, das, was subkutan rumort und sich weniger in Worten als in Bewegungen ausdrückt.
„The Land“ entstand in Kooperation mit dem Residenztheater – erstmals erarbeiteten die Belgier mit einem Schauspiel-Ensemble ein Projekt, was von letzteren ein Loslassen vom Sicherheitsnetz einer logisch geknüpften Handlung einfordert. Und die sechs Resi-Darsteller lassen sich beherzt in den surrealen Performance-Stil fallen.
Zusammen mit Peeping-Tom-Tänzerin Marie Gyselbrecht und Mezzosopranistin Snejinka Avramova vom Gärtnerplatztheater bilden sie eine eigentümliche Gemeinschaft, die durch eine Hand voll Kinder, mögliche Vorgänger ihrer selbst, aufgemischt wird.
Der Patriarch stellt mit der Axt allerhand an, er hackt nicht nur Holz
Einige lose rote Fäden ergeben sich im Lauf der Szenen, die in ihrer todestrunkenen Gesamtheit wie eine Free-Jazz-Variante der „Jagdszenen aus Niederbayern“ wirken. Da gibt Paul Wolff-Plottegg, der hier ungeahnte Talente entfalten darf, eine Art bäuerlichen Patriarchen, der mit seiner Axt nicht nur Holz hackt, sondern sich auch präzise körperbeherrscht vom Gewicht des Werkzeugs rückwärts auf den Boden ziehen lässt. Um später als potenzieller Axt-Mörder Marie Gyselbrecht zu verfolgen.
Das Sich-Jagen zieht sich durch, von den spielenden Kindern zu den triebgesteuerten Erwachsenen. Die faszinierend körperdurchlässige Valery Tscheplanowa zuckt sich durch einen Annäherungstanz mit Philip Dechamps, doch die Kleider fallen trotz aller Elektrizität nicht.
Es gibt kein rechtes Maß, auch im Verhältnis zum Nachwuchs nicht. Als touristisches Paar müssen Arthur Klemt und Michaela Steiger ihren Kindern hinterherhetzen. Oder werden von ihnen bedrohlich umklammert. Oder müssen eins von ihnen suchen…
Marie Gyselbrecht kann als professionelle Tänzerin ihre Bewegungen am klarsten artikulieren, wobei die Schauspieler sich insgesamt beeindruckend in oft konvulsivischer Körperlichkeit verausgaben. Lukas Turtur hat einige tolle Momente, besonders irrwitzig im Duett mit Marie Gyselbrecht: Ihr Stöckelschuh bohrt sich in seinen Schuh, sie kommen nicht mehr voneinander los und legen ein Pas de deux der schmerzhaft Verbundenen hin. Was an jene berühmt-komische Kuss-Szene von Peeping Tom in „Le Salon“ (2004) erinnert. Nur dass Mann und Frau einst beim Tanzen am Mund festklebten.
Graue Wände fahren herab, die Natur in geschlossener Gesellschaft. Am Ende wühlt sich Valery Tscheplanowa wie ein wild gewordener Maulwurf in die Erde. Was genau passiert, erschließt sich nicht, aber in der Tiefe lauern Ängste vor Verlust und Tod. Und auch wenn der Abend schon sehr in seine Bestandteile zerfällt, darf man doch wundersam skurrile, albtraumdunkle Momente erleben.
Infos
Cuvilliéstheater, am 11. sowie am 20. und 21. Mai, jeweils 20 Uhr,
Tel: 21 85 19 40