Tenor Ulrich Reß: Eine tragende Stimme geht in Pension

München - Am Sonntag verabschiedet sich Ulrich Reß von der Bayerischen Staatsoper als Valzacchi im "Rosenkavalier". Wolfgang Sawallisch engagierte ihn als Spieltenor, später wurde er Mitglied des Ensembles und sang Rollen wie die Knusperhexe ("Hänsel und Gretel") und Monostatos ("Die Zauberflöte") - als unverzichtbarer Künstler, der aus kleinen Rollen große macht.
AZ: Herr Reß, was war Ihre erste Rolle im Nationaltheater?
ULRICH RESS: Als Gast habe ich den Steuermann im "Fliegenden Holländer" gesungen. Wolfgang Sawallisch sagte mir damals, er wünsche sich einen Spieltenor mit lyrischen Qualitäten. Dann wurde ich 1984 für die Neuinszenierung von Cileas "Adriana Lecouvreur" mit Margaret Price und Neil Shicoff engagiert. Daher habe ich als Poisson eine riesige Perücke getragen. Daraus entwickelte sich ein langfristiges Engagement.
"Mit der Zeit hat sich meine Stimme weiterentwickelt"
Hatten Sie eine Lieblingsrolle?
Ich mache alles gern und mit voller Überzeugung. Natürlich hatte ich Favoriten. Schon als junger Sänger habe ich vom David in den "Meistersingern" geträumt - den ich dann sehr lange gesungen habe.

Im Lauf der Zeit hat sich meine Stimme auch weiterentwickelt: Es folgten Mime in "Rheingold" und in "Siegfried". Eine Traumrolle war immer die Hexe in "Hänsel und Gretel". Eine Zeitlang hat auch meine Tochter in der alten Inszenierung von Herbert List als Engel mitgespielt. Noch später kamen Aeghist in "Elektra", der Wenzel in der "Verkauften Braut". Außerdem habe ich den Truffaldino in der "Liebe zu den drei Orangen" sehr geliebt - das war noch unter Wolfgang Sawallisch.
Was haben Sie an ihm geschätzt?
Ich habe unter seiner Leitung den David ohne Orchesterprobe gesungen. Das war kein Problem, weil er die ganze Rolle mitgesprochen und einen Sänger als Begleiter durch die Partie getragen hat. Aber ich habe auch großen Respekt vor dem gegenwärtigen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski. Er ist ein sehr geduldiger Arbeiter bei schwierigen Opern wie Schostakowitschs "Die Nase" oder den "Teufeln von Loudun" von Krzysztof Penderecki. Aber die Zeit mit Kirill Petrenko war auch sehr interessant.
In den "Meistersingern" leidet mancher Zuschauer bei Davids Aufzählung der vielen Tonarten. Ist das schwer zu lernen?
Am Anfang ist das schon eine Aufgabe. Aber es ist eine wichtigte Szene für die Entwicklung der Figur des Stolzing. Außerdem hat David sehr dankbare Stellen im dritten Akt. Und er ist am Quintett beteiligt.
"Nicht jeder wird mit allen Rollen glücklich"
Wie oft haben Sie den Monostatos gesungen?
Sicher 160- bis 170-mal. Ursprünglich war ich von Kopf bis zum Bauch einschließlich dem Rücken schwarz geschminkt. Später gab es eine neue Version mit einem schwarzen Hemd. Jetzt ist das Blackfacing abgeschafft. Wenn die Leute damit glücklicher sind und der Text unverändert bleibt - mich stört es nicht. Und meine Frau musste zuletzt nicht ständig die Bettwäsche wechseln.
Es gibt immer wieder Künstler, die vom Spieltenor ins dramatische Fach wechseln. Haben Sie diese Versuchung ebenfalls verspürt?
Natürlich sagt irgendwann jemand: "Deine Stimme ist tragend. Warum versuchst Du nicht mal den Max im ,Freischütz'? Aber nicht jeder wird damit glücklich. Ich habe mir immer gesagt: Lieber singe ich die Partien meines Fachs an einem der schönsten Opernhäuser der Welt.

Der Loge im "Rheingold" hätte mich gereizt - die Rolle wird sowohl von Helden- wie Spieltenören gesungen. Aber das hat sich nicht ergeben. Das Extremste, was ich mir zugetraut habe, war der Herodes in "Salome". Aber ich hätte diese schwierige Rolle nur in einer kompletten Neueinstudierung beibehalten.
Manche Rollen brauchen irgendwann jüngere Sänger
Sie haben den David später an Kevin Conners abgetreten. Tut so etwas weh?
Nein. Außerdem schätze ich den Kollegen sehr. David ist ein Lehrling. Er sollte von einem jüngeren Sänger interpretiert werden - ähnlich wie der Wenzel in der "Verkauften Braut". In David Boeschs Neuinszenierung war ich dann der Zirkusdirektor - ebenfalls eine schöne Rolle, die ich mit Leidenschaft gespielt habe, ohne dem Wenzel nachzutrauern.

Wie viele Auftritte hatten Sie pro Jahr?
Das Ensemble hat mir gestern das Jahrbuch der Staatsoper von 1984 gezeigt: Da hatte ich als Gast elf Vorstellungen. In der folgenden Saison hatte ich dann 80 Auftritte. Ich habe auch den dritten Knappen in "Parsifal" mit Inbrunst gesungen, denn das Gesicht des Hauses sind die kleinen Rollen. Das habe ich mit meinen Kollegen immer gepflegt.
Sie sind trotz Ihrer Treue zu München viel herumgekommen.
1988 hat mich Wolfgang Wagner eingeladen, den David in Bayreuth zu singen. Ich bin in Hamburg, Stuttgart und Barcelona, Nizza und Athen aufgetreten, außerdem war ich mit der Staatsoper in Japan.
Wie schwer ist es, russisch oder tschechisch zu singen?
Zubin Mehta legte großen Wert darauf, dass die Sänger mit Sprach-Coaches arbeiten - auch beim Italienischen. Ich kann russisch oder tschechisch gut aussprechen. Außerdem weiß ich, welche Inhalte ich singe. Damit muss man sich auseinandersetzen.
"Trotz Pension werde ich noch einige Male auftreten"
Wie bereiten Sie sich auf einen Auftritt vor?
Ich wohne in der Nähe von Augsburg. Wir essen gemeinsam zu Mittag, dann ziehe ich mich ins Dachgeschoß zurück, wo mein Flügel steht. Dort schaue ich noch einmal auf den Klavierauszug. Dann fahre ich in aller Ruhe nach München. Ich möchte eine Stunde vor Beginn der Aufführung im Haus sein.

Was machen Sie im Ruhestand?
Ich gehe zwar in Pension, singe aber weiter eine Reihe meiner Rollen wie den Dr. Blind in der letzten Serie der "Fledermaus", den ich in der Premiere in der Maske von Rudolph Moshammer gespielt habe. Außerdem trete ich in "Manon Lescaut", "Rusalka" und in den "Teufeln von Loudun" auf. Das sind 20 Abende - damit bin ich mehr als glücklich. Außerdem hab' ich vier erwachsene Kinder und drei Enkel und freue mich darauf, mehr Zeit mit Ihnen zu verbringen. Und ich werde mit meiner Frau einige Reisen antreten. Auch schwimme, radle und koche ich sehr gerne. Und in einem Haus mit Garten gibt es immer etwas zu tun.