Tanzwerkstatt Europa: Menschen und Welt aus anderer Perspektive betrachten

Der erste Eindruck trügt. Alexander Vantournhout - der drahtige Choreograf mit Bart - und sein langhaariger Mitspieler Axel Guérin sind fast, aber eben nicht gleich groß. Dass sich ihre Arm- und Beinlänge um wenige Zentimeter unterscheidet, führt das athletische Männergespann als Einstieg in ihre wunderbare Performance "Through the Grapevine" äußerst eindrücklich-humorvoll vor Augen. Es ist das zur Halbzeit der Tanzwerkstatt Europa technisch ausgeklügeltste und physisch findigste wie fintenreichste aller bis dahin gezeigten Stücke.
Aufgebaut und entwickelt haben es die zwei zwischendurch (vermeintlich) erschöpft zusammenbrechenden Performer aus genau diesem, eigentlich unwesentlichen körperlichen Unterschied. Der allerdings treibt irrwitzige Blüten, wenn zwar der eine die Schulter des anderen zu berühren oder seinen Oberkörper vor dem Partner problemlos zusammenzuklappen vermag, die Hand des anderen dagegen ins Leere greift und dessen Kopf an der Brust seines Gegenübers stecken bleibt.
Erstaunliche Paarkonstellationen und akrobatische Momente
Nur punktuell unterstrichen von etwas musikalischem Beiwerk werden abstruseste Figuren und Abläufe von sportiv ineinander verdrillten Leibern zu erstaunlichen Paarkonstellationen und akrobatischen Momenten gesteigert. Mit einer herrlichen Passage mittendrin, wenn Vantournhout und Guérin verschlungen wie ein verliebtes Pärchen am Strand posieren und sich darüber uneins werden, zu wem die insgesamt vier nebeneinander angewinkelten Beine denn jetzt gehören.
Mehr Fokus auf die bloß eigene menschliche Physionomie und deren Verfremdung als bei der ersten Hälfte der diesjährigen Tanzwerkstatt Europa gab es in dieser Dichte selten. So sorgte auch das maskuline Sextett in Joe Morans "Arrangement", das in einer eigens herbeigeführten Publikumsrunde freimütig bis provokant-stumm Rede und Antwort stand, ohne viel hintergründigen Tiefgang für viel Spaß und lausbübisches, die Lachmuskeln reizendes Sichverkeilen.
Dieses Jahr besonnen überschaubar
Seit 31 Jahren füllt das Format die ersten beiden Augustwochen in München mit Tanz. Daran etwas zu ändern, vermochte nicht einmal die Pandemie. Trotzdem wollte Veranstalter Walter Heun nach der erfolgreichen Jubiläumsausgabe keinesfalls blind auf abermals zahlreiche Zuschauer vertrauen. Man plante lieber kleiner und blieb bei den Performances mit jeweils einem Gästeprogramm pro Abend besonnen überschaubar. Dabei wurde auf Wiederholungen ebenso verzichtet wie auf megaberühmte Künstler, die sich bei Festivals eh die Klinke in die Hand geben und schnell für volle Säle sorgen. Gut so, denn so hatten und haben alle Interessierten die Chance auf persönliche Entdeckungen.
Schon zur Halbzeit war klar, dass sich die Strategie der vorsichtigen Zurückhaltung auszahlen würde. An den zwei Hauptspielorten Muffathalle und Schwere Reiter blieben nur vereinzelt Plätze leer. Sogar diejenigen, die am familienfreundlich kostenlosen Sonntag im Fluffy Clouds auf dem zum Freizeitpark umgemodelten Gelände des alten Freibads Georgenschwaige ihre Vorträge hielten und im mit Sand aufgeschütteten Becken ein Solo präsentierten oder Yogaunterricht anboten, konnten stets eine ansehnliche Gruppe Aufmerksamer versammeln.
Das Highlight: "Bouncing Narratives"
Das Highlight dieses Sonntagnachmittags waren die frei zugänglichen Aufführungen "Bouncing Narratives" der Norwegerin Roza Moshtagi. Nicht aufgrund des sich ziemlich langsam zu einem skulpturalen Finale mit wehendem Stoff steigernden choreografischen Inputs, sondern schlicht deshalb, weil hier zwei in hübsche, bunte Trikots gekleidete Nixenwesen zu einem ungewöhnlichen Perspektivwechsel einluden. Wer sich auf ihre 45-minütige Show einließ, durfte sich bequem auf Kissen in dem nach oben hin offenen und mit einem Trampolinnetz überspannten Container lümmeln und ihnen von unten beim Hüpfen, Sichumgreifen, Fallen und Verbiegen zuschauen. Den Menschen und seine Welt aus anderer Perspektive zu betrachten, schadet - so das ästhetische Fazit - der eigenen Erdung keinesfalls.
Kurz und im Vokabular absichtlich stark begrenzt fiel dagegen die Eröffnungspremiere am 2. August mit Noé Souliers halbstündigem Parcours "Passages" aus. Schon nach 30 Minuten war Schluss mit dem in einer straßenähnlichen Bühnensituation stimmungsvoll abgespulten Live-Erlebnis. Dabei hätte man den raumgreifend weiten Sprüngen, vielsagenden Armgesten, lauten Aufstampfern und verschreckten Wendungen der sich untereinander mit Blicken abstimmenden zwei Tänzerinnen und drei Tänzern gern länger zugeschaut.
Ergänzt wurde das feine choreografische Konstrukt, das sich selbst genug ist und ganz ohne sonores Brimborium auskommt, durch den sich anschließenden Film "Fragments". Da waren dann nur mehr herangezoomte Ausschnitte tanzender Körper zu sehen. Den Abend wirklich bereichert hat das nicht. Dafür sorgten tags darauf Isabelle Schads Interpretinnen für imposante Eindrücke, angefangen bei Aya Toraiwa, deren wadenlanges, fülliges Haar eine umwerfend wandelbare Hauptrolle in "FUR" spielt. In "Turning-Solo 2" teilen sich zwei Tänzerinnen eine simple Choreografie und garnieren deren jeweils eigenen Fluss mit kleinen Eigenheiten. Claudia Tomasi beeindruckte zuvor nachhaltig: Für ihre langgliedrige Figur hat die 2019 mit den Deutschen Tanzpreis geehrte Schad "Rotation" kreiert - ein eindringliches Solo, bei dem die Losgelöstheit der Arme vom Körperrest verblüfft.
"Science Fiction" des Briten Jonathan Burrows und seines Musikpartners Matteo Fargion konnte da nicht mithalten. Als originellen Ausreißer dagegen sollte man Burrows vorangestellten Monolog "Rewriting" verbuchen. Der Clou neben seinem verbalen Marathon aus philosophischem Gedankengut zu Tanz und über performative Kunst sind immer komplizierter werdende Gesten. Mit ihnen schiebt und wirbelt Burrows seine vielen mit prägnanten Sätzen bekritzelten Kärtchen virtuos auf dem Tisch vor sich herum. Das erfrischend Andere dieser Gedächtnisleistung verlangte dem Publikum durch die Kombi von Sprache und Bewegung ein hohes Maß an Konzentration ab. Für solche Herausforderungen muss man dankbar sein.
Die Tanzwerkstatt Europa dauert noch bis zum 12. August. Karten über München Ticket, Infos zum Programm unter jointadventures.net