Tanzwerkstatt Europa: Ein Symbol der Hoffnung
Wie verändern Künstler den Tanz? Indem sie ihn neu oder radikal anders denken. Dies aufzuzeigen, ist Jahr für Jahr einer der wichtigsten Aspekte der Tanzwerkstatt Europa. Jeden Sommer mutiert München durch das Festival zu einem Schmelztiegel zeitgenössischer Bewegungstechniken und choreografischer Kunst auf Zeit.
Wer die Veranstaltungen besucht, taucht automatisch mit in den familiären Charakter des Ganzen ein. Bestechend wirkt zudem das unermüdlich richtige Gespür des Veranstalters Walter Heun dafür, stets nach vorne zu schauen, ohne frühere Begegnungen oder langjährige Wegbegleiter aus dem Blick zu verlieren.
Schlüssig, anspruchsvoll, handwerklich bravourös
Selten ist das so schlüssig und auf durchweg hohem Niveau wie dieses Mal gelungen. Auch wenn Salma Salem aus Ägypten und Synda Jebals Crew aus Tunesien für den gegen Ende geplanten Doppelabend nicht einreisen durften. Beide werden ihren Auftritt 2022 nachholen. Weitere mögliche Programm-Anwärter für die Zukunft stellten sich am "Who's Next"-Abend mit handwerklich erstaunlicher Bravour vor - und einem breiten Ideenkosmos für eigene Stücke.
Auf die klare, rein formale Bewegungsstudie von Helen D'Haenens und ein über eine numerische Textstruktur funktionierendes Selbstporträt (Anne-Hélène Kotoujansky) folgte - aus Indien filmisch zugeschaltet - das extrem-körperlich elektrisierende und in seiner Kerndynamik an Sharon Eyal erinnernde Gruppenstück "The Source" (Mihir Grover).
Doch damit nicht genug. Das Beste waren zwei perfekt ineinander verzahnte Partnerarbeiten: Arvi Yrjoia & Fidel Rott - ein zirzensisch geprägtes Duo aus Finnland und den Niederlanden - punkteten mit einem fantastischen, technisch ausgeklügelten und impulsiven Jonglage-Duett. Lisa Laurent & Mattéo Trutat aus Frankreich wandelten - unmittelbar nach ihrem Tanzdiplom in Contemporary Dance - ihre Liebe zum klassischen Ballett um in ein stimmiges Spiel mit fixen Formen.
Stark zugespitzt vom posierenden "Adagio" über einen "Variation"-Teil bis hin zur "Coda", wo sich Tschaikowskys Musik für den Schwarzen Schwan aufs Trefflichste mit jazzigen Hüft- und wilden Freestyle-Arm-Schwüngen verbindet. Nur weiter so!
Tänzerische Entkopplung von der Normalität
Bei "Flush" der aus Nordirland stammenden Sheena McGrandles fragt man sich allerdings, warum diese Tänzerin und Choreografin den Fluss ihrer Werke so konsequent in Momentaufnahmen von bloß Sekundenbruchteillänge auf- und zerteilt.
Dem Zuschauer bereitet sie damit jedenfalls ein originelles Live-Seherlebnis, das wirkt, als würde ihr Team am Regiepult die Bewegungsabläufe der drei auch stimmlich agierenden Interpretinnen ständig mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vor- oder zurückspulen. Erzählung passiert hier von jeglicher Normalität entkoppelt. Winzige Details einer Aktion finden, zigmal wiederholt, zu neuer Bedeutung. Oder sie reizen den Betrachter einfach zum Lachen.
Den allergrößten Respekt verdiente sich Flora Détraz' "Muyte Maker": ein hinreißend kurios performtes Konzert altfranzösischer Gesangsstücke. Da hocken vier Frauen hinter vier zusammengeschobenen Tischen. Obst und Pflanzen schmücken ihre Köpfe. Doch die Zöpfe hängen an Ketten, deren Gegengewichte Hammer, Beil, Axt und Sichel sind.
Wir hören "Cucu" von Juan del Encina. Die Tänzerinnen singen lupenrein a cappella - und das die gesamte Vorstellung hindurch. Zugleich tanzen ihre Augen, Münder und Gesichter. Später dürfen in emotionalen Ausbrüchen auch die Arme und Beine mit ran. Das erste Gastspiel der französisch-portugiesischen Choreografin dauert genau eine Stunde - in der Machart eine Wucht.
Bildsatte und intensive Tage
Nach 17 bildersatten und eindrücklich-intensiven Tagen ging die 30. Jubiläumsausgabe mit der obligaten Abschlussperformance der Dozenten und ihrer Workshop-Teilnehmer zu Ende. Die sonst übliche finale Party aller Mitwirkenden und Zuschauer fiel pandemiebedingt schon am Vorabend nach der eigentlichen Geburtstagsveranstaltung "Against all Odds" aus.
Letzteres ein Allerlei "trotz widriger Umstände" aus gezoomten Gratulationen und persönlichen Situationsanalysen (Ramsey Burt, Jonathan Burrows), einem auflockernden Online-Minikurs im Bewegung-Fühlen (Jeremy Nelson) und pointiert vorgetragenen Texten, die der Wiener Künstler Nikolaus Gansterer zeitgleich und an die Hinterwand projiziert durch skulpturale, auf seinen Bühnentisch gemalte Visualisierungen künstlerisch ausdeutete.
Nachhaltig aufschlussreich prägte sich die Corona-Restriktionen kritisch hinterfragende Abhandlung "Touch me, if you want" des Performancekünstlers Janez Jana oder die resoluten Ausführungen wider das globalisierte Tourneegeschäft von Jérôme Bel ein, dessen Kompanie längst jede Flugreise verweigert.
Von den kurzen, improvisatorisch wirkenden Tanzeinlagen wurden einige vom Münchner Musiker Robert Merdzo in Klang gebettet. Zum Schluss ließ seine E-Gitarre ein kleines Mädchen - die Hände am Saum des Kleides - allein auf großer Bühne tanzen. Was für ein Hoffnungssymbol.
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