"Spielart"-Festival in Bewegung: Zeremonie und Furor

München - Bewegung als Statement, Revolte, erotisch-aufmüpfiger Spaß oder körperenergetische Ausgelassenheit. Getanzt wird in der diesjährigen Ausgabe des "Spielart"-Festivals jedenfalls enorm viel und drakonisch virtuos.
Gespickt mit Figurenelementen und Momenten der Nähe
Nicht zuletzt in "Cria" der brasilianischen Urban-Dance-Style-Truppe Cia Suave, die - noch einmal am Samstag - Funk aus Rio ebenso unglaublich verarbeitet wie individuelle Erfahrungen aus den Favelas. In der freizügigen Choreografie von Alice Ripoll darf eine bunt zusammengewürfelte Crew ganz schamlos ausgeflippt agieren.
Das bereitet vor allem in der ersten Hälfte der vor Dynamik und Schrittakrobatik schier explodierenden Show eine Heidenfreude. Anfangs sorglos überwältigend wie eine karnevaleske Straßenparade - gespickt mit Figurenelementen und Momenten der Nähe, die wir Europäer gemeinhin der lateinamerikanischen Salsa zuordnen. Sich offen auf Bilder von orgiastischer Aufgeladenheit, Begierden, dem Akt einer Geburt und Phasen des Kindseins einzulassen, ist die unterhaltsame Kür des zweiten Teils. Lachkitzel inbegriffen.
Das oft ganzkörperliche Geschlängel und Vibrieren - bevorzugt in der zum Publikum hin ausgestellten Po- bzw. Hüftregion - und das Stimmung schürende Durchkämmen von Räumen geht dabei im Laufe der aus Rio de Janeiro, Mexiko oder dem Tschad eingeladenen Stücke stets eine enge Partnerschaft mit sozialpolitischen Querverweisen ein. Diese bekommt man dann stellenweise auch in verbalen Dosen serviert, wobei das nicht immer jedermann verständliche Wort vergleichbar dem Tanz häufig zum Flirtinstrument wird.
Befremden und Faszination liegen manchmal unmittelbar beieinander
Sie wollen definitiv bewegen, all die tollen, oft (ihre) Andersartigkeit zu Inhalten erklärenden Performer. Und wie ginge das besser als durch Erlangen von Sympathie. Dabei haben die meisten von ihnen bereits fruchtbare Arbeitsverbindungen zum Westen.
Nun geben sie das Beste von sich preis, um uns mitzureißen und gleichzeitig ins Grübeln zu bringen. Gilt es doch durch ein individuelles respektive kollektives Sich-(Her-)Ausstellen den Blickwinkel auf das Fremde und Diverse zu hinterfragen. Kein Thema wiegt momentan gesellschaftlich schwerer als ebendas. Da liegen Befremden und Faszination manchmal unmittelbar beieinander.
So mutete das Eröffnungsstück "Danza y Frontera" ("Tanz und Grenze") der auch in Wien beheimateten mexikanisch-chilenischen Choreografin Amanda Piña wie ein mystisches Ritual an. Entwickelt auf Basis eines uralten, unter kolonialer Herrschaft die Unterdrückung manifestierenden Eroberungstanzes: der "Danza de Conquista". Eine Zeremonie unterschiedlichster in einem Dazwischen lebender Wesen, die sich langsam Schritt für Schritt aus der prähispanischen Vergangenheit zu einem wilden, finalen Furor steigert.
Am Ende ist das Ziel erreicht, sichtbar werden zu lassen, was sich des Nachts im sandigen Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA für kulturelle Konstellationen unter dem Einfluss extremer Gewalt in Zusammenhang mit Militarisierung, Drogenhandel bis hin zu industrieller Dumpinglohnsklaverei abspielt. Grandios weil im Tanz über mystische Komponenten hinaus immer etwas Universelles und prompt Begreifbares mitschwingt.
Geballte maskuline Power in "The Drying Prayer"
In Taigué Ahmeds Tanzstück "The Drying Prayer" geht es dagegen konkret um Probleme der Bevölkerungsgruppen rund um den Tschadsee: wechselhafte Wasserstände, geringere Erträge beim Fischfang und blutige Auseinandersetzungen, die den Alltag erschweren und im Theater durch entsprechende Requisiten (Wanne, Gießkannen, Schlappensohlen, Netze etc.) symbolisiert werden.
Damit führen die fünf involvierten Tänzer eine Art Gottesdienst aus Anklage und hoffnungsvoller Zukunftsvision aus. Zeitgenössischer Tanz aus Afrika trifft auf traditionelle Bewegungsformen. Geballte maskuline Power, die sich von Mann zu Mann unterscheidet wie Regionen des Landstrichs, um den sich alles dreht. Zum Schluss wird selbstbewusst in neuen Klamotten und Feierlaune abgetanzt. Das löst schnell einhellige Begeisterung im Publikum aus.
Dass es Menschen gibt, die nicht einfach raus können aus der ihnen von Natur aus gegebenen Haut zeigte Sorour Darabi auf - in der ganz auf den eigenen, hyperfemininen Körper und einen leeren, grauen Raum reduzierten Soloperformance "Mowgli". Das Territorium, auf dem sich hier bewegt wird, ist der Alptraum einer geschlechtlich nicht zuzuordnenden Existenz, die aber dadurch zu sich findet, dass sie im Dschungel aus Unkenntnis, Gefühlen und Missverständnissen Halt sucht und Schutz findet. Eindringlich wie bewegend.
Das Gastspiel "Cria" (Alice Ripoll) ist am 30. Oktober um 21 Uhr im Carl-Orff-Saal des Gasteig zu sehen. Infos & Programm unter www.spielart.org