Souffleuse Pertiet: Das Gedächtnis des Volkstheaters
München - "Volpone" kann kurz durchatmen. Der bleichgeschminkte Mann verschwindet hinter dem Bühnenbild, zieht ein Sweatshirt über das dünne Kostüm. Das gleichnamige Theaterstück lief eineinhalb Stunden, eine weitere wird folgen.
Maren Pertiet, Souffleuse am Münchner Volkstheater, steht mit dem Publikum auf. Tritt auf den Gang, dann durch eine Seitentür. Aufschrift: Mitarbeiter. Hinter den Kulissen, auf den Gängen des Theaters, ist die Stimmung gelöst. Denn bisher musste Pertiet an diesem Abend nicht eingreifen.
Jede Vorstellung im Scheinwerferlicht
Platz 16 in der ersten Reihe ist immer ausverkauft. Dort sitzt Maren Pertiet. Jeden Abend. Von der ersten bis zur letzten Minute taucht der Strahler mit der Nummer 260 sie und ihr Textbuch in Scheinwerferlicht. Pertiet ist die einzige Souffleuse des Theaters, kennt alle Stücke, alle Rollen, alle Szenen – aber kaum jemand kennt sie. Wie bei allen Souffleusen ist es am besten, wenn sie niemandem auffällt.
Der Arbeitstag von Maren Pertiet beginnt um 18.30 Uhr. Noch eine Stunde bis zur Vorstellung. Auf einer Treppe hinter der Bühne sitzend, schreibt sie Anmerkungen in den Text. Wichtiger jedoch: Sie baut Kontakt auf zu den Schauspielern, die an ihr vorbeilaufen – zur Dusche, in die Maske, zum Rauchen. "Wie geht’s dir? Wie war das Wochenende?".
Während die Darsteller ihren Text lernen, lernt Pertiet die Schauspieler auswendig. "Es bringt mir nichts, nur auf den Text zu achten, sondern ich muss auf das Spiel der Darsteller reagieren." Improvisation oder Sprung in der Szene? Dramaturgische Pause oder Blackout? Pertiet bleiben meist nur Sekunden, um zu entscheiden.
Die Arbeit einer Souffleuse beginnt schon weit vor der Vorstellung
Die Arbeit einer Souffleuse beginnt deshalb nicht mit der Vorstellung. Manchmal bekommt Maren Pertiet schon Wochen vor einer Premiere das Textbuch. Vierzehn Tage vor dem Auftritt verpasst sie keine Probe mehr. Das Textbuch wird zum Malbuch: Drei gestrichene Zeilen auf Seite 4, in fast jedem Absatz ein Haken für eine Pause. Und manchmal auch nur ein dickes Ausrufezeichen – hier wird sie der Improvisation folgen, schließlich ist sie ausgebildete Schauspielerin.
Und jung. Schauspielen oder Tanzen, bis der Körper nicht mehr mitmacht – so landen viele Bühnenmenschen im Souffleusen-Beruf. Pertiet dagegen ist erst 26 Jahre alt, im selben Jahrgang wie einige im Ensemble des Volkstheaters. Bis zum zweiten Schauspielsemester stand die junge Frau selbst auf der Bühne. Bis zu ihrem Kreuzbandriss. Dann ging’s in die Reha, sie kämpfte um ihr Comeback. Dem eigenen Körper rang Pertiet eine Rückkehr ab. Sie bestand ihre Abschlussprüfung – und beschloss dann, nicht mehr zu spielen. Als Souffleuse genieße sie es einfach, "ihren Schauspielern" zu helfen.
19.20 Uhr, Einlass. Wie alle Gäste betritt die Souffleuse den Vorstellungsraum. Die Zuschauer kommen aus dem Restaurant, Pertiet hat am Nachmittag zum letzten Mal gegessen. Sie muss das komplette Stück lang vollkommen konzentriert sein. Bloß keine Verdauungsnarkose.
Die Freundin eines jeden Schauspielers
"Innerlich spiele ich in jeder Szene jede Rolle mit." Ihre Lippen formen dann unhörbare Worte, der dazugehörige Text kommt von der Bühne. Schauspieler spielen, Pertiet liest Theater. "Ein Schauspieler, der auf der Bühne seinen Text vergisst, ist nackt!", sagt die Souffleuse. Auf ein Zeichen hin – ein Fingerschnipsen, ein "Maren" oder "Text, Text, Text" – bedeckt Pertiet seine Blöße. "Geht rein ins Stück", wie sie es nennt.
Manchmal drehen sich die Zuschauer neben ihr dann um. "Hat die gerade was gesagt?". Fünf Reihen dahinter fällt ihr Eingreifen nicht mehr auf. Alle paar Tage kommt ein Fingerschnipsen. Sechs Arbeitstage und nur ein Satz. Aber dieser einzelne Satz bedeutet dem Ensemble viel, gibt Sicherheit. Sicherheit, sich im Stück voll ausleben zu können. Von der Bühne blicken die Darsteller auf ihre Souffleuse herab, hinter dem Vorhang regiert die pure Dankbarkeit. "Ich bin die Freundin der Schauspieler im Zuschauerraum", sagt Pertiet.
Wenn der Souffleusenscheinwerfer 260 ausgeht, naht die Pause, obwohl das Stück noch ein paar Sekunden weiterläuft. Pertiet wird dann hinter die Bühne gehen. Zurück in die Theaterwelt. Mit den Schauspielern scherzen, sich strecken im Aufenthaltsraum der Mitarbeiter: "Gymnastikübungen. Ich sitze, sitze, sitze. Und jeden Abend an derselben Stelle."
Ausgesessene 70er-Jahre-Polster unter grauem Stoff. Der Rücken leidet. Backstage knarzt der Lautsprecher, das Ende der Pause naht. Es folgen Kommandos, die kein Zuschauer hört. "Maren Pertiet, bitte den Souffleusenplatz besetzen." Jetzt eilt die 26-Jährige an den Garderoben vorbei, an der Bühnenschleuse rechts ab, den Gang entlang. Die Hinterbühnenwelt trennt eine schwere Metalltür vom Draußen.
Die Arbeitszeiten machen einsam
Souffleuse ist ein einsamer Beruf. "Ich habe frei, wenn andere arbeiten oder in der Uni sind", sagt Pertiet. Die Trainer im Fitnessstudio sieht sie manchmal öfter als ihren Freund. Doch auch zum Theaterensemble gehört sie nicht, ist keine Schauspielerin, kommt kurz vor der Vorstellung und geht bald nach ihrem Ende.
Selbst im Zuschauerraum hat sie eine Sonderrolle. Scheinwerfer 260 erklärt allen Sitznachbarn: Das ist die Souffleuse. "Alles ist verheilt, zurück auf die Bühne möchte ich trotzdem erstmal nicht", sagt Pertiet nachdenklich. Strafft sich, tritt durch die Tür in Richtung Zuschauerraum.
Dort, ganz vorne, auf ihrem Stammplatz mit der Nummer 16, spielt sie jede Inszenierung als stille Teilhaberin mit. Ihr Finger erreicht die letzte Zeile, dann klappt sie das Textbuch mit der Aufschrift "Volpone" zu und wird es später zu den 14 anderen in ihrem Spind legen – alles aktuelle Stücke.
Scheinwerfer Nummer 260 erlischt zuerst, dann alle übrigen im Saal. Der Applaus ist auch ihr Applaus.