So türkisch ist das Oktoberfest

Der Abend beginnt patriotisch. Der Kabarettist bittet das Publikum, sich zu erheben und die Nationalhymne zu singen. Wer Christian Springer kennt, weiß natürlich, dass es ihm nicht um die Pflege des Deutschtums geht. Hinter der Nummer steckt ein hinterlistiger Gedanke: Schaun mer mal, wer unter seinen Zuschauern die Hymne wirklich drauf hat. Das Ergebnis am Premierenabend bei der Lach- und Schießgesellschaft ist „eine schlechte drei", benotet Springer streng, denn ab der dritten Zeile wird der Gesang schütter.
Der so hinreißend grantelnde Münchner Satiriker ist ein besonders hoffnungsloser Fall, wenn es um Gerechtigkeitssinn und Idealismus geht. Unter den deutschsprachigen Politbrettl-Künstlern hat er einen besonderen Status, denn er mischt sich ganz aktiv in Dinge ein. Er hat semitische Sprachen studiert - das sind Sprachen des Vorderen Orients - und bereist mehrmals im Monat den Libanon, um dort zu helfen.
Als er einmal nach Hause zurückkam, brachte ihn die Meldung von Horst Seehofers Äußerung, Deutschlands Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen seien derzeit erschöpft, so auf die Palme, dass er dem Bayerischen Ministerpräsidenten spontan einen langen Brief schrieb. Der ist jetzt als 80-seitiges Traktat auch im Buchhandel erhältlich. Warum, so fragt er in seinem neuen Solo „Trotzdem", sollen die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, die Nationalhymne auswendig lernen, wenn es kaum ein Deutscher je getan hat? Und was ist überhaupt deutsch daran? Von Fallersleben, so fasst Springer zusammen, schrieb den Text auf dem damals britischen Helgoland und Haydn hatte die Melodie dem österreichischen Kaiser gewidmet und auch noch von einem kroatischen Liebeslied geklaut. Und so geht es durch die Geschichte: Von der Erfindung des Selbstmordattentats durch christliche Fundamentalisten in der Antike bis zu den Gaunerstückchen der CSU seit den 1950er-Jahren.
Was Springer zeigt, ist weniger pointiertes Kabarett, sondern mehr ein von Wissen und vom Wissenwollen getriebenes Infotainment: „Wir müssen wissen, wo was herkommt", erklärt er, und er meint das als eine eminent politische Forderung. Schaut man etwas genauer hin, stellt man fest: Nicht einmal das erste Bierzelt auf der Theresienwiese im Oktober 1810 war urdeutsch, sondern im 17. Jahrhundert von den Türken erbeutet. Vor allem im zur Premiere noch etwas unfertigen zweiten Teil steht die Wissensvermittlung dem Kabarett immer wieder mal im Weg. Dennoch ist Springers neuester Streich ein lohnenswertes Kleinkunst-Abenteuer um deutsche Selbstvergewisserung in einer Gesellschaft, die endlich erkennen soll, dass sie schon immer Multikulti war: „Wer san mir, wenn die andern mir san?"
Mathias Hejny Münchner Lach- und Schießgesellschaft, bis einschließlich Montag ausverkauft, 1., 3., 4., 5. Mai, 20 Uhr, Telefon 391997