So ist das Familienstück "Pinocchio" - die AZ-Kritik
Wer im Showbusiness bestehen will, sollte zäh sein, widerstandsfähig wie eine Küchenschabe, der ja selbst radioaktive Strahlen nichts anhaben sollen. Kein Wunder also, wenn eine große Kakerlake im Residenztheater als Star auf die Bühne tritt. Auf dem Kopf von Gunther Eckes hüpfen die Fühler, ansonsten steht er aufrecht, seine Füße sind flink. So flink, dass er mit seiner Kakerlaken-Gang eine Gesangsnummer mit Steppeinlage hinlegen kann, auf den Lippen ein Lied über den unterschätzten Charme der Ungeziefer.
Jaja, wenigstens im Theater dürfen die Außenseiter im Rampenlicht stehen. Vielleicht hat ja so eine Kakerlake einiges an Identifikationspotenzial für die Kleinen im Publikum. Der Traum vom Superstar-Dasein, den das Fernsehen pflegt, rumort schon recht früh in den Köpfen, Konsumwahn und Vergnügungssucht halten aber vom Ausbau der Talente ab.
Was den Bogen in die Vergangenheit hineinspannt, eben zu jenem ungehorsamen Holzkopf Pinocchio, der sich lieber von schlechten Freunden ins verführerische Spielland ziehen lässt als brav in die Schule zu gehen. Die pädagogisch wertvolle Lern-was-damit-du-was-wirst-Botschaft, die all die ordnungszersetzenden Abenteuer letztlich ins Moralinsaure laufen lässt, findet man schon im Ur-Pinocchio von Carlo Collodi. Ab 1881 begleitete er mit seiner seriellen Mär die Einführung der Schulpflicht in Italien.
Thomas Birkmeir hat sich Mitte der 1990er als Autor an einer Musical-Version des Stoffes versucht, tauschte unter anderem die sprechende Grille des Originals mit der Star-Kakerlake aus. Nachdem das Stück an mehreren Häusern zu sehen war, verwertet Birkmeir es nun selbst als Regisseur im Resi.
Bühnenbildner Christoph Schubiger hat ihm dafür eine aufwändige Theatermaschinerie gebastelt, in der sich wechselnde Kulissen mit Videobildern zu stimmungsvollen Szenarien verbinden: vom italienischen Örtchen Camorra bis zum Unterwasser-Ambiente mit Regenschirm-Quallen und Riesen-Krake. Animiert werden die Tierchen von Studenten der Abraxas Musical Akademie, die auch die Camorraner mimen und jede Einlage als tanzendes, singendes Grüppchen vielseitig komplettieren.
Geld verdienen? Am Theater?!
Dass auch die Resi-Schauspieler sich locker im leichten Fach bewegen können, beweisen sie hier mit Spielwitz und Lust am Musical-Pathos. Gerade Gunter Eckes ist als Kakerlake ein herrlich komischer Side-Kick für Pinocchio: als Anstandswauwau heillos überfordert, als Gaglieferant, auch für die Erwachsenen, treffsicher.
Wenn Pinocchio seinem Ziehvater Geppetto (rührend: Michael Tregor) entflieht, um sich im Theater zu verdingen, staunt das Ungeziefer: „Geld verdienen? Am Theater? Wie soll denn das gehen?“, und kommentiert nebenbei den prekären Status der Zunft.
Als Impresario Malgusto ist Götz Argus schön sinister, als Fuchs Stronzo und Kater Stupido bilden Jeff Wilbusch und Katharina Pilcher ein punkiges, mitunter nerviges Duo, das auf Pinocchios zufälligen Reichtum aus ist. Einmal wagt der Abend einen Ausflug in den Grusel: Im Amüsierpark liegt ein großer Clownskopf auf dem Boden, ein Auge leuchtet böse rot. Ein großer Anarchist, wie im Programm steht, ist Pinocchio nicht: Philip Dechamps gibt mit steifen Bewegungen eine sympathische Puppe auf der Reise ins Menschsein ab. Und ja, die Nase wächst beim Lügen.
Als Dea ex machina darf Genija Rykova ein paar Mal vom Himmel schweben. Sie spielt die Fee Fantasma mit gnadenlos guter Ironie. Dennoch denkt sich der Kritiker kurz, ob ein Staatstheater wirklich zwischendurch jeden Kunstanspruch sausen lassen sollte, um solch wenig tiefgehendes Musical-Entertainment für die ganze Familie zu bieten. Aber nun, Weihnachten steht vor der Tür, und das Spektakel läuft fast wie am Schnürchen.
Bis zum italo-klischeetrunkenen Ende. Begeisterter Applaus. Was dem Publikum gefällt – dafür haben Thomas Birkmeir und sein Team ein gutes Näschen.
Wieder am 19.11., 10 Uhr; 29.11., 11 Uhr und 16 Uhr; 30.11., 10 Uhr; Telefon 2185 1940
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