Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig", inszeniert von Nicolas Stemann in der Kammer 1
Der Beginn einer Intendanz hat immer was von einem Versuchslabor. Anders könnte es gar nicht sein, weil ja alles neu justiert werden muss, im Gefolge der Vorgänger und mit eigenen Zielen. Bei einem wie Matthias Lilienthal wäre man enttäuscht, wenn nicht der Experimentiergeist hinter der ersten Inszenierung seiner ersten Spielzeit als Intendant der Kammerspiele hervorschiene. Sprich: Auf einen Kuschelkurs mit Stadt und Zuschauern hat man nicht unbedingt Lust, Konfrontation darf schon sein.
Und als ob Nicolas Stemann, nun Hausregisseur an den Kammerspielen, und Benjamin von Blomberg, nun Chefdramaturg, auch ein wenig dieses Schwebende, Ungewisse, Versuchshafte eines Neuanfangs der Intendanz mitgedacht haben, erlebt man eine Inszenierung von „Der Kaufmann von Venedig“, die in ihrer formalen Ausrichtung ein Probier-Spiel von Distanz und Annäherung aufmacht. Denn hier konfrontieren sich sechs Schauspieler, nein, natürlich nicht mit dem neuen Intendanten, sondern dem Klassiker Shakespeares.
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Dessen Text ist überall im Raum auf Bildschirmen verteilt, kann über weite Strecken mitgelesen werden, von Darstellern und Zuschauern, wodurch sich alle zusammen in einem Diskursraum befinden. Die Werktreue wird einem so ständig buchstäblich aufs Auge gedrückt. Das Bühnenbild von Katrin Nottrodt mit Flipchart, Bürostühlen, Tischen, Laptops und Flatscreens erzeugt eine nüchterne Arbeitsatmosphäre zwischen Sprachlabor und Big Business.
Was schon eine Lesart anbietet: Die Ökonomie aller Beziehungen verbindet die Komödie der Liebenden mit der Tragödie. Die entwickelt sich, weil der Kaufmann Antonio sich 3000 Dukaten von Shylock leiht, um dieses Geld seinem Freund Bassanio zu geben, damit dieser weiter die reiche Portia umwerben kann. Ähnlich wie Geld, Schulden oder Ringe hin und her wechseln, macht Stemann das Sprachmaterial zur Verfügungsmasse, die er an sechs Schauspieler verteilt, auf dass die Rollen ins Flottieren geraten.
Die berühmte Rede Shylocks – „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“ – wird dabei zum heiteren Reigen, in dem jeder mal ausprobieren darf, wie das klingt, wenn man aufs Allgemeinmenschliche besteht, egal, welcher Konfession man angehört oder welche sexuelle Orientierung man hat. Da tauschen sie das Wort „Jude“ aus, und schon spricht Hassan Akkouch stellvertretend für alle Muslime, Jelena Kuljic für alle Roma, Niels Bormann für alle homosexuellen Juden, Julia Riedler für alle Frauen. Und Thomas Schmauser bricht als Letzter rein, als heterosexueller Mann, tobt wegen diesem Einordnungsquatsch, womit das Pathos, das in diesen Appellen liegt, schon wieder gebrochen wäre.
Eine textlastige, teils spaßige Performance des Klassikers
Insgesamt findet der Abend zu einer schönen Schwebe zwischen ernst gemeintem Vortrag und ironischem Spiel, zwischen politischem Statement und ausgelassen performativen (Party-)Einlagen. Dabei gibt Stemann seinen Schauspielern die Möglichkeit, sich dem Publikum zu präsentieren. Raum und Luft ist da: für den trockenen Witz von Niels Bormann, der sich einmal eine Hakenkreuz-Binde, Vampir-Zähne und Hakennase für den Blutsauger-Nazi-Juden-Look anlegt und seine Mitspieler mit dem Satiremagazin „Charly Hebdo“ terrorisiert, um ihren Humor zu testen. Oder für den Jazz-Gesang von Jelena Kuljic, die einen offenhörbaren Sinn fürs Schräge hat. Oder das Improvisationstalent von Juliane Riedler, die spontan ein Handyklingeln im Publikum in ihren Redefluss einbauen kann und am ehesten in tatsächliche emotionale Zustände hineingeht. Immerhin ist sie als Portia eine Liebende.
Dazu waghalsig wirkende Tanzeinlagen von Hassan Akkouch, der sich vom arabisch sprechenden Fremden zum Barbra-Streisand-Verschnitt verwandelt: Für „Papa can you hear me?“, der Schnulze aus dem Film „Yentl“, mutieren sie zu einer Gruppe im Dienste des Kitsches und des Anything goes, mit dem meist großartig verspielten Thomas Schmauser im Fassbinder-Lederlook.
Das ist ausbaufähig
Das Berserkern nehmen sie zurück, wenn Antonio und Shylock vor Gericht stehen und die als Anwalt verkleidete Portia für eine fragwürdige Gerechtigkeit sorgt: Shylock wird alles genommen, sein Reichtum, seine Religion, und Stemann nimmt ihm zudem die Stimme. Niemand verkörpert Shylock, er verschwindet, nur der Text ist da. Zuschauer und Schauspieler lesen in einnehmender Stille.
So lässt Stemann manches als unspielbar dastehen und wirft manche Frage auf – ist das Stück antisemitisch oder stellt es Antisemitismus dar? – aufs Publikum zurück. Den fünften Akt, in dem die Geschlechter sich um die Treue-Ringe fetzen, spielen die Darsteller boulevardhaft weg, bis das Happy End alles zu übertünchen droht.
Doch die Tragödie wirkt nach: Das letzte Bild gehört Walter Hess am Rande, einsam, erledigt. Shylocks letzte Worte leuchten noch. Dann übernimmt die Dunkelheit am Ende einer wahrlich textlastigen, teils spaßigen Shakespeare-Leseperformance. Das ist ausbaufähig.
Kammerspiele, Kammer 1 (Schauspielhaus), wieder am 15., 22., 23. Oktober, 8., 15., 24. November, Telefon 233 966 00