Schweig oder schrei!

Bei „Radikal jung“ im Volkstheater begeistern zwei unterschiedliche Ansätze.
von  Mathias Hejny
Die Uraufführung "Tyrannis" am Volkstheater mit einer zombiehaften Familiensituation.
Die Uraufführung "Tyrannis" am Volkstheater mit einer zombiehaften Familiensituation. © N. Klinger

München - Einen roten Vorhang muss man bei einem Theaterfestival, das sich unter dem Arbeitstitel „Alles ist Theater“ den unendlichen Weiten jenseits der bekannten Grenzen des Schauspiels gewidmet hat, nicht erwarten. Das Staatstheater Kassel hat dennoch einen wohnlichen Bühnenvorhang zu „Radikal jung“ ins Volkstheater mitgebracht.

Der öffnet sich so munter zuckelnd wie der Vorhang in der Augsburger Puppenkiste. Die Figuren, die dahinter agieren, sind menschliche Darsteller, bewegen sich jedoch häufig wie Puppen. Aber sie sind keine lustig zappeligen Marionetten.

Der 29-jährige Performer Ersan Mondtag will mit „Tyrannis“ das Fürchten lehren. In einem Ambiente, das wie für einen Film von David Lynch entworfen scheint, lebt der Grusel der alltäglichen Verrichtung und die Furcht vor dem Draußen. Ihren Reiz gewinnt die Regiearbeit des Berliners mit Otto-Falckenberg-Vergangenheit durch seine formalen Eigenwilligkeiten: Die sechs Darsteller spielen nicht nur ohne Worte, sondern auch mit geschlossenen Augen, deren Lider mit blicklosen Augen geschminkt sind, was der gesamten Motorik das Eckige eines Zombies verleiht.

Obwohl über Videowände auch die anderen Räume des Horrorhauses beobachtet werden, besteht Mondtag auf einer geheimnisgesättigten Undurchschaubarkeit, die den Zuschauer grundsätzlich aussperrt. Das Konzept vertraut aber nicht ohne Erfolg auf den ganz menschlichen Voyeurismus, der den Blick in fremde Schlafzimmer sucht, auch wenn nicht immer zu verstehen ist, was da vor sich geht. Die Jury des Berliner Theatertreffens hat offenbar etwas verstanden und lud „Tyrannis“ aus Kassel für dieses Jahr ein.

Ein weiterer Festivalbeitrag aus dem Hessischen ist verglichen mit der stummen und hermetischen Choreografie auf geradezu altmodische Weise geschwätzig: „Fräulein Julie“ von August Strindberg unter der Regie des 30-jährigen Daniel Foerster am Schauspiel Frankfurt. Hier wird leidenschaftlich begehrt, gebalzt, gestritten, gerauft, Dosenbier gesoffen und Schmutz wird nicht nur gedacht und geredet, sondern auch geworfen.

 

Expressionismus mit Körpereinsatz und rotzfrechem Witz

 

Die Ausstatter Lydia Huller und Robert Sievert bauten auf die Kleine Bühne des Volkstheaters zwei Ebenen, die das soziale Gefüge des Stücks visualisieren: Unten haust die fromme Köchin Kristin (Verena Bukal) in einer erotisch eher suboptimalen Kutte aus Jeansstoff und zwischen beiden Welten glaubt ihr Verlobter Jean (Alexej Lochmann), Diener des adeligen Fräuleins, an den gesellschaftlichen Aufstieg. Ganz oben, wo die tief hängende Decke den aufrechten Gang verhindert, spielt Julie (Katharina Bach) mit den Gefühlen des Lakaien.

Der Zusammenprall von skandinavischem Naturalismus und teutonischem Expressionismus wird mit höchstem Körpereinsatz gespielt und hat rotzfrechen Witz, und doch lässt der flotte Dreier in der Mittsommernacht erstaunlich kalt.
 

 

 

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