"Schuberts Reise nach Atzenbrugg": Künstlers Liebesleid

München - Er liebte heftig und wurde nicht erhört. Schubert reißt sich die Kleider vom Leib, entsteigt dem Biedermeier und wird ganz Mensch. Dann fällt die Inspiration als Notenblätterregen vom Himmel und aus dem Orchestergraben des Gärtnerplatztheaters erklingt das überwirklich schöne Streichquintett.
Uraufführung mit einjähriger Verspätung
Das ist ein effektvoller Schluss für Johanna Doderers Oper "Schubert in Atzenbrugg", die nun mit einjähriger Verspätung vor rund 50 getesteten Mitarbeitern des Theaters und - mit allerhöchster ministerieller Bewilligung - zugelassenen Medienvertretern uraufgeführt wurde.
Aber die Vorstellung, künstlerische Kreativität werde aus Leiden und Verzicht geboren, haben zahllose Künstlerdramen, Romane und Filme ebenso verschlissen wie die konkurrierende Idee, der Künstler müsse den Exzess maximal ausleben, um Großes zu schaffen.
Textliche Schwachstellen
Leider ist dies nicht der einzige Schwachpunkt des Textes von Peter Turrini. Der österreichische Dramatiker ("Rozznjogd", "Die Alpensaga") beschränkt sich im Grunde auf eine einzige, entwicklungslose Konstellation: Schubert liebt Josefa.
Aber er traut sich nicht, seine Gefühle auszusprechen. Das hat Turrini mit lemurenhaften Krüppeln napoleonischer Kriege, der schwarzen Pädagogik in Vater Schuberts Schule und der alptraumhaften Visionen einer Quecksilberkur aufgebrezelt, was zur Geschichte nur mäßig beiträgt.
Turrini ist zu diskret
Turrinis Text wird in vielen Worten selten konkret. Hält der Autor Schubert und seine stutzerhaften Freunde für Bewohner des Elfenbeinturms, die ihre soziale Umwelt kaum wahrnehmen? Ist Schubert bindungsunfähig, weil er vom Vater traumatisiert wurde? Oder ist es seine Syphilis?
Turrini ist zu diskret, auch nur mit einem Wort anzudeuten, wo Schubert sich seine Geschlechtskrankheit geholt haben könnte und wie das mit seinen Hemmungen gegenüber Frauen zusammenhängen könnte.
Der Reisewagen der Schubertianer steht im Zentrum
Mit der Projektion eines besonders kitschigen Gemäldes distanziert sich Josef E. Köpplingers Inszenierung vom Schubert der berüchtigten Kitsch-Operette "Das Dreimäderlhaus".
Der Reisewagen der Schubertianer, der sich am Ende in eine Art Leichenwagen verwandelt, steht im Zentrum. Diese Bildidee hat allerdings den Nachteil, dass allerlei stummes Drumherum vieler nicht singender Personen von den Hauptfiguren ablenkt (Bühne: Rainer Sinell).
Wo bleibt die homoerotische Note?
Leider liegt Daniel Prohaska das Introvertierte weniger, und so bleibt seinem Schubert nicht viel mehr, als grimmig mit sich zu ringen und die Fäuste zu ballen. Mária Celeng, Florine Schnitzel, Anna-Katharina Tonauer und Andreja Zidaric singen zwar allerliebst, aber sie dekorieren mehr die Männerfreundschaften um Schubert, ohne dass der Librettist daraus den naheliegenden Schluss gezogen hätte, dass da eine homoerotische Note mitschwingt.
Und so entgeht uns leider ein schönes Männerduett zwischen dem Titel-Tenor und Kupelwieser (Mathias Hausmann), Feder (Daniel Gutmann) oder Franz (Alexandros Tsilogannis).
Unpersönliche Anverwandlung des amerikanischen Minimalismus
Johanna Doderers Musik bezieht Schubert im Original oder in postmoderner Verfremdung ein. Das erinnert bisweilen an Luciano Berios legendäres "Rendering" nach den Symphoniefragmenten des Komponisten. Den Hauptteil von Doderers Komposition bildet eine etwas unpersönliche Anverwandlung des amerikanischen Minimalismus:
breite Streicherkantilenen, die von variiert wiederholten Holzbläser- oder Schlagzeug-Soli untermalt werden. Das ist weit genug von Schubert entfernt, und aus dieser Distanz entstehen immer wieder hochemotionale Steigerungen, deren Suggestion man sich nur schwer entziehen kann.
Die Textverständlichkeit leidet unter dem Orchester
Die Kammer-Fassung wirkt keine Sekunde als Kompromiss. Leider hatten die von Michael Brandstätter dirigierten Musiker des Orchesters ein wenig Angst davor, nicht gehört zu werden, was zur Textverständlichkeit nicht beitrug. Und die Person am Solo-Cello wollte offenbar die Aufmerksamkeit durch ein penetrantes Super-Vibrato erzwingen, als würde Leises im Theater nicht besser wirken.
Die eher gemischten Erfahrungen mit Künstler-Opern des letzten Jahrhunderts hätten zur Vorsicht mahnen müssen.
"Schuberts Reise nach Atzenbrugg" leidet vor allem an einem unentschiedenen Text, und es scheint, als habe man im Gärtnerplatztheater über der Freude, diese Legende der österreichischen Nachkriegsliteratur gewonnen zu haben, irgendwann die Energie zum kritischen Nachfragen verloren. Denn das hätte diese Oper im Vorfeld vielleicht retten können.
Termine für öffentliche Vorstellungen stehen derzeit noch nicht fest. Der kostenlose Stream bleibt bis 7. Mai, 23 Uhr auf der Homepage des Theaters