Schrecklich unausgegoren: "Unsterblichkeit oder Die letzten sieben Worte Emilia Galottis" im Volkstheater
Als Gotthold Ephraim Lessings Drama "Emilia Galotti" 1772 uraufgeführt wurde, begann mit der Aufklärung gerade so etwas wie eine moderne Zeit: Die Willkür der Adelsherrschaft wurde ebenso in Frage gestellt wie die Selbstverständlichkeit des Klassensystems; Vernunft und Moral standen hoch im Kurs. Schluss mit der "selbstverschuldeten Unmündigkeit"!
Der Mensch sollte selber denken, Machtstrukturen durchschauen und Ungerechtigkeiten beenden. Ein hehres Ziel, auch heute wieder. Lessing also ließ Bürgerliche in der Tragödie auftreten, eine dramatische Revolution, die eine ganz neue Gattung zur Folge hatte: das bürgerliche Trauerspiel.
Ein Trauerspiel entfernt von unserer Lebenswirklichkeit
Im Zentrum steht jene Emilia Galotti, die am Tag der Handlung den Grafen Appiani heiraten soll. Dies verhindert der Prinz von Guastalla aus Eifersucht, indem er den Grafen töten und Emilia entführen lässt.
Am Ende des Dramas bittet Emilia ihren Vater, sie zu töten, um ihre Tugend zu retten. Nach einigem Zögern ersticht er sie.

So weit, so entfernt von unserer Lebenswirklichkeit. Obwohl? Toxische Männlichkeit, falsche Moralvorstellungen, Unterwerfung und Femizide sind auch 250 Jahre später leider nicht aus der Welt. Es gäbe also durchaus Themen, die ein heutiger Regisseur in dem alten Stück finden könnte. Philipp Arnold geht am Volkstheater einen anderen Weg. Er hat die Autorin Arna Aley gebeten, das Stück zu überschreiben.
Das Ergebnis trägt den schönen Titel "Unsterblichkeit oder: Die letzten sieben Worte Emilia Galottis" und wurde jetzt in Arnolds Regie am Volkstheater uraufgeführt.
Zitate ohne Kennzeichnung
"Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert": Auf diese Worte der Emilia bezieht sich Aley. Emilia sagt sie, bevor sie stirbt. Tatsächlich sagt sie danach noch einen Satz, will die Hand ihres Vaters küssen, aber das kann vernachlässigt werden. Leider werden diese Worte im Stück jedoch ziemlich beiläufig eingeworfen. Wer nicht weiß, dass das jene letzten Worte sind, wird es an diesem Abend nicht erfahren.

Und auch sonst bleibt ziemlich unklar, was hier eigentlich erzählt werden soll und was das mit dem Titel des Stücks zu tun hat. Die Handlung wird durch Video-Einspielungen zu Beginn im Nymphenburger Schloss zu München angesiedelt, wo Prinz von und zu Nymphenburg sich mit Princess Amalia of Saxony vermählen soll, was durch das schöne Blumenmädchen Nailia irgendwie vereitelt wird. Oder auch nicht. Denn eine stringente Handlung sucht man hier ebenso vergebens wie eine Erklärung, was all das denn nun eigentlich mit Lessing beziehungsweise seiner Emilia zu tun hat. Nein, "Emilia Galotti" muss man 2024 nicht unbedingt inszenieren. Aber warum bezieht sich die Autorin schon im Titel auf sie, wenn sie dann nur einzelne und beliebige Motive wie die Hochzeit - oder eben irgendeine Hochzeit - daraus nimmt und hie und da ein Zitat einstreut?
Vergebliches Suchen nach Zusammenhängen
Das führt dazu, dass das Hirn beim Zuschauen permanent damit beschäftigt ist, relativ vergeblich Verbindungen und Zusammenhänge zu suchen, die einfach nicht da sind. Oder zumindest sehr konstruiert. Wer "Emilia Galotti" nicht kennt, hat wohl auch nach diesem Abend keinen blassen Schimmer, worum es bei Lessing geht, was denn nun jene letzten sieben (oder eigentlich acht) Worte sind - und was das alles mit dem launig-wirren Treiben auf der Bühne zu tun hat.
Denn ja: Lena Brückner, Luise Deborah Daberkow, Steffen Link, Anton Nürnberg und Liv Stapelfeldt geben sich allergrößte Mühe, die Untiefen des Textes zu überspielen, und schaffen einige durchaus komische Momente. Auch Regisseur Arnold ist sichtlich bemüht, durch den Einsatz von Live-Videos und Puppenspiel viel aus der Vorlage rauszuholen.
Das alles kann aber leider nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin sich komplett verheddert in all den Anspielungen und Assoziationen. Sie verläuft sich in all den Metaebenen, die sie konstruiert und die genau das bleiben: sehr konstruiert. Denn es geht beileibe nicht nur um Lessing und seine "Emilia Galotti". Es geht um Bayern und Sachsen, um Monarchien, um Ost und West, um Russland und die Krim.
Was hat das mit Deutschland und Lessing zu tun?
Markus Söder kommt ebenso vor wie Dschingis Khan. Wie das alles zusammenpasst? Leider gar nicht. Arna Aley benutzt "Emilia Galotti" als Sprungbrett und landet in der Beliebigkeit. Sie scheint sich dessen durchaus bewusst zu sein, thematisiert das Dilemma selbst: "Pass auf, ich verstehe ja, dass du unbedingt die Geschichte deiner Heimat erzählen möchtest, aber alle werden sich fragen: Was hat das mit Deutschland und Lessing zu tun?"

Dieser Abend erhellt nicht, er vernebelt. Figuren wie Handlung lassen einen ratlos zurück. Zentral ist bei Aley die Geschichte der Krim, die zufällig 1772, im Jahr der Uraufführung von Lessings Stück, von der russischen Zarin Katharina II. überfallen wurde. Dieser Zufall allerdings genügt nicht, um aus dem hier geschaffenen Zusammenhang mehr zu machen, als er nunmal ist: ein Zufall. Die beiden Ereignisse haben nichts miteinander zu tun. Es kostet die Autorin und den Regisseur enorm viel Energie, sie zusammenzubringen, indem das Blumenmädchen sich als Krimtartarin herausstellt, die in einer Theater-AG die Rolle der Emilia spielen sollte.
Entlessingte Version
Es wäre sicher von Vorteil gewesen, all diese Energie in eines der beiden Vorhaben zu stecken: entweder mit Lessing abzurechnen oder mit Russland beziehungsweise Putin. Diese "entlessingte Version" ist leider vor allem eins: unausgegoren.
Volkstheater, Tumblingerstr. 29, wieder am 22. und 25. November sowie am 3., 8. und 19. Dezember. Karten unter Tel: 523 46 55