Sag Ja zur Freien Szene

Das Rodeo-Festival beginnt mit einem wunderbaren Theaterautomaten, gejodelten Manifesten sowie der Tanzperformance „Empathy“
von  Michael Stadler
Die Münchner Performancegruppe The Agency hat ein Stipendium vom Goethe Institut bekommen, eins von drei „Bloom Ups“ des Festivals. Sie recherchieren in Sachen Männlichkeit und wollen eine „fiktive Männerbewegung“ kreieren. Erste Ergebnisse der Recherche sind am Samstag um 16 Uhr im Foyer des Schwere Reiter zu sehen.
Die Münchner Performancegruppe The Agency hat ein Stipendium vom Goethe Institut bekommen, eins von drei „Bloom Ups“ des Festivals. Sie recherchieren in Sachen Männlichkeit und wollen eine „fiktive Männerbewegung“ kreieren. Erste Ergebnisse der Recherche sind am Samstag um 16 Uhr im Foyer des Schwere Reiter zu sehen. © Andy Kassier

Im Herbst muss man aufpassen, dass man nicht den Kopf verliert angesichts der hehren Anzahl von Theaterfestivals, die auf die Stadt München einbrechen: Ab Anfang November bombardiert einen das Festival „Politik im Theater“ an diversen Spielstätten mit Performances aus aller Welt unter dem Motto „reich“. Zuvor, ab kommenden Mittwoch, erfreut das erheblich ausgebaute Figurentheaterfestival für zwölf Tage zum Thema „Mit: Gefühl“ mit 31 Inszenierungen aus zehn Ländern für Groß und Klein.

Und allen voran hat nun Rodeo begonnen, das alle zwei Jahre stattfindende Festival der freien Tanz- und Theaterszene Münchens, das bis Sonntag einiges an ausgewählten Tanz- und Theaterperformances der letzten zwei Jahre bietet sowie, in Kooperation mit dem Johann Wolfgang von Goethe Institut ermöglichte, erste Einblicke in kreative Prozesse von Münchner KünstlerInnen mit KünstlerInnen von anderswo, die sogenannten „Bloom Ups“. Dazu Vorträge, Ausstellungen, Party. Altes wuchert weiter, Neues blüht – ein volles Programm.

Auf dem Frisierstuhl

Während die Sinne angesichts lauter solcher Theater(vor)freuden zu schwinden drohen, sitzt man dann schon in einem Friseurstuhl im Pathos Theater, einer der freien Spielzonen im Kreativquartier der Stadt, wird in gebückter Haltung von zwei nett wirkenden Menschen – Angelina Kartsaki und Sebastian Schlemminger, die das Kollektiv Pragmata bilden – unter einen Kasten geschoben und aufgefordert, nun den Kopf zu heben. So landet man, der Rumpf still gelegt, das Haupt fest im Loch in einem „Theaterautomat“, der einen mit den nostalgischen Mitteln des mechanischen Theaters beglückt.

Dabei erzählt eine Stimme aus dem Off von den Umbrüchen, welche das digitale Zeitalter mit sich bringt, vor allem von der Vereinzelung des Menschen, die man nun gerade als einzelner Kopfmensch in diesem Kasten erlebt. Ein magnetisch in die Bühnenmitte hingezogenes Kügelchen steht dann auch erstmal recht einsam da, aber es folgen weitere Kügelchen, die sich bald auch berühren, sich formieren, und auf der hinteren Wand offenbart sich ein Sammelsurium an Zeugs, metallisch die Schere, hartschalig eine Walnuss. Alles fein aufgereiht gegen das Chaos der (digitalen) Welt und so einladend, dass man am Ende dem Aufruf zum Mitsingen eines Songs über unsichtbare Maschinen folgt. Bis es zur Fehlermeldung kommt und eine kleine Kreissäge rotiert – nur nicht den Kopf verlieren…

Sag Ja zum Exzess!

Solche hübsche Kleinigkeiten erzeugen Festivallaune. Und es ist eine weitere gute Idee, den eigentlichen Rodeo-Eröffnungsreigen mit Manifesten zu beginnen, dogmatischen Äußerungen zum Kunstschaffen also, weil ja ein paar ästhetische Regeln und künstlerische Absichtserklärungen im Wust der freien Szene nie schaden können – zur besseren Orientierung für sich selbst und ein Publikum, das sich auf dem Gelände des Kreativquartiers wie magnetisch angezogene Kügelchen zur Gruppe formiert und über fünf Stationen hinweg von einem vorgetragenen Manifest zum nächsten geführt wird.

Den Rahmen bilden Christiane Huber, die das Konzept des „Eröffnungsspecials“ mit Simone Egger erarbeitete, sowie die mit heimatlichen Klängen wohl vertraute Maria Hafner. Sie beide jodeln, hoch platziert auf Tennis-Schiedsrichterstühlen und unterstützt von einem Drummer, das „No-Manifesto“ von Yvonne Rainer, einen Tanzmanifest-Klassiker aus dem Jahr 1965. Und sie beschließen den Reigen der Manifeste neueren Datums, darunter von Münchner Performancegrößen wie Ceren Oran, die ihres betörend hingebungsvoll im Autoscheinwerferlicht tanzt, mit dem „Yes-Manifesto“ der dänischen Choreographin Mette Ingvartsen, mit dem diese vierzig Jahre später auf das „No Manifesto“ reagierte.

Zwischen Verbot und Erlaubnis changiert die Kunst, ja, eigentlich das ganze Leben, und wie spektakulär es dann doch ist, wenn die eh schon von oben jodelnden Manifest-Schwestern am Ende den Blick selbst nach hinten und nach oben richten, hinauf zu zwei hochragenden Baukränen, deren Arme dank spätarbeitender Kranführer in gleichmäßige Schwingung gebracht werden. Ein kleines Kran-Ballett zum Festival-Einstieg also, vielleicht als Zeichen dafür, dass über jedem Manifest noch höhere Kräfte walten, die sich den Regeln beugen – Sag Ja zum Exzess! – oder sich doch nicht kontrollieren lassen.

Auf gleicher Augenhöhe

Diesen Tanz der Maschinen kann das Team unter Aufsicht der debütgeförderten Choreographin Jasmine Ellis im Schweren Reiter zwar buchstäblich nicht toppen, aber die erste von Festivalleiterin Sarah Israel ausgewählte Best-of-Produktion aus der freien Szene interessiert sich auch mehr für die Augenhöhe: zwischen zwei Tänzerinnen und zwei Tänzern, zwischen Performern und Publikum, zwischen Menschen.

Wenn das Mitgefühl da draußen abhanden kommt, muss man sich eben auf der Bühne damit auseinandersetzen. So führt „Empathy“ zu Beginn die Vereinzelung der Tänzerinnen und Tänzer vor Augen, um sie in fließende, spontan wirkende, aber wohl genau geplante Begegnungen immer wieder zu einer Gruppe zusammenzuschweißen, ohne dass jemand ewig in ihr hängen bleibt.

Drei Musiker, Lukas Bamesreiter, Ralph Heidel und Maximilian Hirning, pushen vorwärts mit Beats und jazzigen Einlagen. Auch sie befinden sich in einem Spalt zwischen Solo-Moment und Sich-Fallen-Lassen in die Gruppendynamik. Gegenseitig fangen sich die Tänzer auf, ziehen zwischendurch an E-Zigaretten für bühnenwirksame Rauchzeichen zwischen Coolness, gemeinschaftsstiftendem Ritual und individuellem Willen zur Gesundheitsschädigung, aber halt weichspülerisch mit E, nicht ganz echt. Mittendrin brechen sie in Gelächter aus, was das Gegenteil von Mitgefühl ist, die pure Distanzierung.

Am Ende ist man als Zuschauer nicht richtig mitgerissen, weil die volle Energie und Präzision in der Wiederaufnahme nicht ganz wiederhergestellt werden konnte. Aber das wäre ein vages Urteil, letztlich nur ein Gefühl, weil der Kopf eben manchmal schon ja sagt, der Bauch aber eher nein.

Das Rodeo-Festival geht noch bis Sonntag: Programm unter www.rodeomuenchen.de
 

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