Roberto Alagna über "La Juive" von Fromental Hálevy im Nationaltheater

Nicht viele Tenöre wagen sich an die Partie des jüdischen Goldschmieds Éléazar in der Oper „La Juive“ von Fromental Hálvey. In der ersten Premiere der Münchner Opernfestspiele singt Roberto Alagna am Sonntag diese Rolle. Seine Gattin Aleksandra Kurzak übernimmt die Partie von Éléazars Tochter Rachel.
AZ: Herr Alagna, ist es ein komisches Gefühl, dass Ihre Gattin auf der Bühne Ihre Tochter spielt?
ROBERTO ALAGNA: So ist das im Theater, und das ist das Schöne! Wir müssen immer in die Personen eintauchen, die wir darstellen. Ich bin selbst Vater von zwei Töchtern. Die jüngste ist zweieinhalb und die ältere 24 Jahre alt. Am vergangenen Sonntag bin ich Opa geworden.
Hilft das, sich in Éléazar einzufühlen?
In dieser Oper denke ich immer an meine große Tochter. Ihre Mutter war früh gestorben. Mit 19 Jahren wurde ich Witwer und musste sowohl Papa als auch Mama sein. Damals habe ich oft die Éléazars Arie „Rachel, quand du Seigneur“ gesungen. Heute weiß ich erst, warum ich mich so sehr von der Arie angezogen fühlte. Eléazar ist ein reifer Mann, und heute habe auch ich sein Alter. Also ist die Rolle für mich etwas normaler.
Besteht nicht die Gefahr, dass der persönliche Hintergrund zwischen Ihnen und ihrer Frau das Emotionale noch steigert?
Keine Frage! Wenn sich Rachel mit Éléazar dem Henker ausliefert, um am Ende im siedenden Wasserkessel zu verbrühen, überkommt mich fast ein Unwohlsein. Ich muss tief Luft holen und an etwas anderes denken, weil ich sonst nicht singen könnte – gerade weil ich das mit meiner Frau gestalte.
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Warum rettet Éléazar nicht Rachel und sich selbst, indem er ihre wahre Herkunft enthüllt?
Darum geht es nicht. Éléazar fragt Gott, was er tun soll. Rachel ist es im Grunde selbst, die sich für dieses Ende entscheidet. Er liebt sie sehr, obwohl sie nicht seine leibliche Tochter ist. Eigentlich ist sie die Tochter des Kardinals Brogni, was dieser nicht weiß. Bevor Élázar nach Konstanz verbannt wurde, hatte er in Rom die kleine Rachel einst vor dem Flammentod gerettet und großgezogen. Sie ist die Tochter seines ärgsten Feindes: Élázar musste mit ansehen, wie Brogni seine Söhne hinrichten ließ.
Gibt es Parallelen zwischen Eléazar und dem Shylock aus Shakespeares „Kaufmann von Venedig“?
Ja und nein. Shylock hat den Antisemitismus verbal erlebt, wohingegen die Söhne von Éléazar getötet wurden. Trotzdem hat er gut gehandelt, indem er Rachels Leben rettete. Shylock trägt mehr Boshaftigkeit in sich. Aber beide sind Opfer des Antisemitismus, und auch in Shakespeares Stück wird das klar artikuliert. Damit rechtfertigt Shylock seinen Hass, und dasselbe tut Éléazar. Auch er hasst die Christen, weil sie ihm Furchtbares angetan haben. Es ist ein ewiger Hass zwischen den Religionen. Das erinnert an Shakespeares „Romeo und Julia“, wo sich zwei Familien hasserfüllt gegenüberstehen. Hier aber sind es zwei Religionen, nämlich das Christentum und Judentum.
Was sagt uns der Stoff heute?
Dass jedweder Fanatismus fatal ist, weil er Ängste und soziale Spaltungen kreiert. Es ist der Verlust von Humanität, und genau hier setzt der Regisseur Calixto Bieito an. In seiner Lesart geht es nicht einfach um Antisemitismus. Bei ihm gibt es keine religiösen Symbole. Er erzählt von inhumanem Hass gegenüber anderen Menschen aus welchem Grund auch immer. Es ist furchtbar, wenn man nicht aufeinander zugeht, obwohl wir alle als Menschen gleich sind. Genau das passiert noch heute.
Warum hat Enrico Caruso den Éléazar erst am Ende seiner Karriere einstudiert?
Sicherlich weil die Partie so schwer ist. Halévy hat sie Adolphe Nourrit, dem Sänger der Uraufführung, auf den Leib geschrieben. Der Vokalstil ist wandlungsreich: Die Arie „Rachel, quand du Seigneur“ ist nicht so hoch und scharf gesetzt wie manches im ersten Akt. Nourrit war es auch, der das Gebet des Éléazar in dieser Form angeregt hatte. Ursprünglich hatte Halévy hier ein Ensemble vorgesehen. Zudem war Éléazar zunächst als Bass-Partie konzipiert. Nourrit hat angeregt, dass es interessant wäre, einen Tenor einen älteren Vater singen zu lassen statt ständig einen jungen Liebhaber.
Eine Rolle also weit jenseits von gängigen Tenor-Klischees?
Genau. Éléazar ist wirklich eine Herausforderung. Liebe und Hass, Schmerz und Qual: Diese Gefühle verlangen der Stimme viel ab. Man muss das gut steuern und kontrollieren. Generell ist es in dieser Oper wichtig, stilvoll vorzugehen und im Gesang auf Effekte zu verzichten. Der Effekt erwächst aus der jeweiligen Phrase, aus der Schönheit des Klangs. Ich möchte Éléazar eine Leichtigkeit und Klarheit geben, ohne die Last des Gebeutelten zu verlieren – zumal bei Halévy der Belcanto noch präsent ist.
Wagner schätzte Halévys Oper. Sie singen in einem Jahr den Lohengrin in Bayreuth. Passt das zusammen?
Ich bin der Meinung, dass alles von Wagner belcantohaft gesungen werden sollte – auch „Parsifal“ oder die „Meistersinger“. Bei Wagner kommt alles Dramatische aus dem Belcanto. Für Lohengrin werde ich meine italienischen und französischen Opernerfahrungen auf Wagner übertragen. An meiner Technik möchte ich nichts ändern.
Wie kam die Einladung nach Bayreuth zu zustande?
Ich wurde mehrmals gefragt und habe abgelehnt. Schließlich hat mich auch Christian Thielemann angerufen, und da sagte Aleksandra: „Du musst das tun.“ Ich habe es zunächst nicht verstanden, warum sie mich fragten. Vielleicht möchten sie etwas Neues ausprobieren, obwohl Wagner heute ja grundsätzlich nicht mehr so heldenhaft-schwer gesungen wird wie im 20. Jahrhundert. Diese Einfachheit gefällt mir sehr. Es ist die große Schwierigkeit, alles einfach und leicht zu nehmen.
Premiere am Sonntag, 18 Uhr im Nationaltheater. Weitere Vorstellungen am 30. Juni, 4. und 8. Juli sowie im Oktober. Die Premiere wird auf www.staatsoper.de ins Internet übertragen