Riskantes Theaterstück in der Schauburg: Im Alkoholnebel

Das wirft Fragen auf: Ein Stück über sexuellen Missbrauch unter Jugendlichen: "Ich hab noch nie..." in der Schauburg.
von  Michael Stadler
Sie (Helene Schmitt) und er (Michael Schröder) landen später gemeinsam im Bett.
Sie (Helene Schmitt) und er (Michael Schröder) landen später gemeinsam im Bett. © Cordula Treml

München - Die Erinnerung verblasst schnell, aber was man als Teenager (und später) an den Wochenenden alles getrieben hat, hat sich doch im Großen und Ganzen eingeprägt: Freunde treffen, trinken, ausgehen, tanzen, flirten, weitertrinken, vielleicht "jemanden klar machen". 

Trinkspiel "Ich hab noch nie" gibt den Rahmen vor

Zum Ritual des Vorglühens gehörten und gehören diverse Trinkspiele. Hemmungsabbau ist erwünscht, gleichzeitig findet der Kontrollverlust im Rahmen eines Spiels brav reguliert statt.

"Ich hab noch nie…" heißt das Trinkspiel, das dem Theaterstück von Nelly Winterhalder seinen Titel gibt. Eine Person sagt, was sie noch nie gemacht hat; zum Beispiel: "Ich hab noch nie unter der Dusche gesungen." Diejenigen, die doch schon mal unter der Dusche gesungen haben, müssen was trinken.

So wird der Alkoholkonsum zum Bekenntnis oder gar Zugeständnis; gleichzeitig findet man in den Mit-Säufern Menschen, die eine Erfahrung oder Eigenschaft teilen. "Ich habe noch nie etwas vergessen", sagt die Hauptfigur des Stücks, die generalisierend als "Sie" geführt wird. "Sie" hat also ein sehr gutes Gedächtnis… Alle anderen trinken.

Wahrnehmung ist schon im Moment des Erlebens stark getrübt

Genau darum geht es in Nelly Winterhalders Stück, das bereits 2013 in ihrer Wahlheimat Norwegen uraufgeführt wurde und nun in der Schauburg seine Premiere im deutschsprachigen Raum hatte: um das Erinnern und Vergessen, wobei die Wahrnehmung schon im Moment des Erlebens stark getrübt ist.

Fünf Jugendliche besaufen sich an einem "ganz normalen Samstagabend", machen Party, bis dann doch "etwas passiert", was den Rahmen sprengt. Ein Mädchen, nämlich "Sie", landet bei einem Kumpel, "Er", auf dem Ledersofa und dann im Bett, zieht ihren Rock aus (oder auch nicht), was er als unmissverständliche Aufforderung versteht und im Rückblick so kommentiert: "Sie hat sich einfach ausgezogen, und ich hab' einfach durchgezogen."

Fünf Jugendliche überprüfen ihre alkoholvernebelten Erinnerungen

Fand da also eine Vergewaltigung statt? Hat sie nicht laut und deutlich "nein" zu ihm gesagt? Die fünf Jugendlichen kreisen in nachträglichen Gesprächen und verschiedenen Konstellationen um das traumatische Ereignis, überprüfen ihre eigenen, alkoholvernebelten Erinnerungen, ringen mit ihren Formulierungen, umgehen eine konkrete Benennung dessen, was da wohl stattfand.

Theaterstück "Ich hab noch nie…": Es fallen gefährliche Sätze

Damit spiegelt Winterhalder den Umgang mit sexuellem Missbrauch, in diesem Fall unter Teenagern, riskiert aber auch, genau jene sprachlichen Verwischungen vorzunehmen, die in realen Prozessen zu hören sind - wenn es überhaupt dazu kommt. "Ich habe mich selbst vergewaltigt, in dem ich zu wenig nein gesagt hab", mutmaßt das Mädchen. Das ist ein gefährlicher Satz, oder?

Regisseurin Katharina Mayrhofer geht ein Wagnis ein

Katharina Mayrhofer, Regie-Absolventin der Otto Falkenberg Schule und seit der Spielzeit 2017/18 Regieassistentin an der Schauburg, geht mit fünf Ensemblemitgliedern das Wagnis ein, einem Publikum ab 14 Jahren ein Stück vorzuspielen, in dem die Komplexität und Ambivalenz eines solchen "Vorfalls" vor Ohren geführt wird.

Die Bühne hat Fiona von Bose karg eingerichtet: hinten ein Briefkasten in Schräglage, weiter vorne ein Streugutbehälter. Außerdem Stromkästen - auf zweien en miniature der Ausschnitt einer Hochhausfront gemalt, im Innern ein Spiegel zum Schminken und Abchecken des Ausgeh-Looks.

Theaterstück "Ich hab noch nie…": Freunde geraten ins Trudeln

Und ja, "Sie", gespielt von Helene Schmitt, hatte sich für den Abend einen kurzen Rock ausgesucht, den sie später, weil das Ledersofa im Zimmer des Jungen etwas klebrig und sie total betrunken war, vermutlich auszog. Mit ihm schlafen aber wollte sie auf jeden Fall nicht. "Er", gespielt von Michael Schröder, ist ein lockerer Typ, der sympathisch flirtet und später seinen Schwung verliert, wenn nicht mehr sicher ist, was er für sicher hielt. Vor seinem Freund (Janosch Fries) versucht er sich zu rechtfertigen, der Freund wiederum gerät selbst ins Trudeln: Zu wem soll er hier stehen?

Theaterstück "Ich hab noch nie…": Alles bleibt im Vagen

Als Freundin von "Sie" ist Lucia Schierenbeck die Einzige, die direkt und resolut den Jungen anklagt, ihn unter anderem als "Vergewaltiger" und "Mannschwein" bezeichnet. Die Ex-Freundin des Jungen (Nele Sommer) enthüllt spät, dass sie das Mädchen weinend und schreiend aus seinem Zimmer laufen sah. Warum hat sie damals nicht reagiert? Schuldgefühle und Solidaritätskonflikte entstehen in der Aufarbeitung, Helene Schmitt lässt in Monologen die Traumatisierung des Mädchens aufscheinen.

Aber es bleibt doch alles im (realitätsnahen?) Vagen in diesem gut gespielten Stück, das als Annäherung an das Thema Missbrauch für Jugendliche vielleicht den richtigen Ton anschlägt, aber in seiner Ambivalenz und Sachtheit, inklusive einem verwischt inszenierten Ende, auch fragwürdig erscheint.


Schauburg, Große Burg, wieder am 18. Juni, 10 und 19 Uhr und am 19. Juni, 20 Uhr, Reservierung unter Telefon 089/23337155.

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