Interview

Regisseurin Sapir Heller über "Der Besuch der alten Dame" im Volkstheater

Premiere im Volkstheater: Sapir Heller transportiert Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" in die Enkelgeneration.
Michael Stadler |
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"Der Besuch der alten Dame" im Volkstheater.
"Der Besuch der alten Dame" im Volkstheater. © Gabriela Neeb

Zuletzt hat Sapir Heller Maya Arad Yasurs Stück "Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten" bundesweit in über 15 Theatern inszeniert, darunter auch am Münchner Volkstheater. Nach diesem Solo nimmt sie sich nun Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" vor und denkt den Stoff zwei Generationen weiter, mit der Enkelin der alten Dame als Hauptfigur.

Die 1989 in Israel geborene Regisseurin studierte an der Bayerische Theaterakademie und hatte zuletzt mit „Animal Farm“ einen großen Erfolg am Volkstheater.
Die 1989 in Israel geborene Regisseurin studierte an der Bayerische Theaterakademie und hatte zuletzt mit „Animal Farm“ einen großen Erfolg am Volkstheater. © Stefan Loeber

AZ: Frau Heller, Dürrenmatts Stück ist ein Klassiker, der in den letzten Jahren nicht unbedingt häufig aufgeführt wurde. Was hat Sie an dem Stoff gereizt?

SAPIR HELLER: In meiner Arbeit hat mich insgesamt schon immer interessiert, wie Traumata über Generationen hinweg vererbt werden. Im "Besuch der alten Dame" fand ich ein Stück, mit dem man sehr gut davon erzählen kann, wie hinter der Fassade einer Stadtgesellschaft eine verdrängte Geschichte lauert. Nur, dass ich es noch interessanter fand, dass jetzt die Enkelin in die Heimatstadt ihrer Großmutter kommt.

Sie weiß dabei noch gar nicht, was in Güllen geschah.

Die Enkelin hört tatsächlich erst durch einen alten Richter, dass ihre Großmutter ein Verhältnis mit Alfred Ill hatte und von ihm schwanger wurde, er aber seine Vaterschaft leugnete und sie nach einem Prozess, bei dem einige Zeugen falsch aussagten, aus der Stadt vertrieben wurde. Später heiratete die Großmutter einen Milliardär. In Dürrenmatts Stück kommt sie als reiche Frau zurück nach Güllen, um den verarmten Stadtleuten eine Milliarde für denjenigen anzubieten, der Alfred Ill umbringt.

Die Enkelin erscheint hingegen ohne Racheplan in Güllen.

Ja, sie ist eine Sängerin, die in Güllen ein Konzert spielen möchte. Als sie von der Vergangenheit erfährt und merkt, dass diese von den Güllenern verdrängt wird, sagt sie aus einem Gefühl des Widerstands und Trotzes heraus, okay, dann biete ich demjenigen, der Alfred Ills Enkel tötet, eine Milliarde an. Es ist ein Test: Na, dann zeigt mal, wie es um eure Ideale steht, um eure Moral! Danach fallen die Güllener so in ihre Falle hinein, dass die Enkelin sich in ihr Spiel verliebt und tatsächlich Rachegefühle entwickelt.

Die Güllener zeigen sich zunächst sehr moralisch, verhalten sich aber dann so, als ob der Tod von Ill insgeheim beschlossene Sache ist.

Ja, niemand will sich selbst die Hände schmutzig machen, aber alle verschulden sich und hoffen, dass jemand anderes den Mord begehen wird, damit sie selbst mit reinem Gewissen weiterleben können.

Nina Steils spielt die Enkelin von Claire Zachanassian, die zunächst gar nicht weiß, was dieser in Güllen widerfuhr.
Nina Steils spielt die Enkelin von Claire Zachanassian, die zunächst gar nicht weiß, was dieser in Güllen widerfuhr. © Gabriela Neeb

Dabei wollen sie das, was der Großmutter passiert ist, unter den Teppich kehren. Ein zentraler Satz bei Ihnen lautet: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Es ist das Motto dieser Stadt: Die Güllener wollen nicht über die Schrecken der Vergangenheit reden, sondern den schönen Schein wahren. Die Konfrontation dieser verschwiegenen Stadtgesellschaft mit der Enkelin spiegelt dabei ein bisschen meine eigene Geschichte.

Inwiefern?

Als ich aus Israel nach Deutschland kam, bin ich hier auf viele Leute getroffen, die sich wenig oder gar nicht mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben. Obwohl es sehr viel Schulmaterial und KZ-Besuche von Schulklassen gibt, trotz zahlreicher Bücher zu dem Thema hatte ich den Eindruck, dass nur wenige Leute wissen, welche Rolle ihre Großeltern konkret während der Nazi-Zeit gespielt haben. Mir haben sie hingegen viele Fragen gestellt, weil ich Israelin und Jüdin bin - meine eigene Großmutter wurde zudem im KZ geboren und hat es überlebt. Ich habe mich als Projektionsfläche für die Probleme anderer gefühlt, anstatt dass die Leute sich selbst mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.

Das Schweigen der Güllener findet sich bereits bei Dürrenmatt. Lässt sich das leicht inszenieren?

Nicht unbedingt. Ich finde es interessant, wie schwierig es manchmal ist, auf der Bühne zu schweigen. Diese Momente der Stille wollen genau gesetzt sein. Und Schweigen bedeutet ja auch nicht immer Stille. Wenn die Güllener über etwas sprechen, schweigen sie oft gleichzeitig über etwas anderes.

Liegt in diesem ständigen Subtext, in dieser Falschheit vielleicht die Komik des Stücks?

Auf jeden Fall! Der Bürgermeister hält zum Beispiel große Reden über die Gerechtigkeit und man weiß, was eigentlich darunter liegt. Die Situationen sind oft sehr komisch, Dürrenmatt hat seine Figuren stark überzeichnet. Er hat sein Stück auch "eine tragische Komödie" genannt, womit diese grundlegende Dualität gut zum Ausdruck kommt: Es ist wahnsinnig lustig und gleichzeitig wahnsinnig schmerzhaft.

Die Frage, die auch bei der Aufarbeitung des Holocaust eine zentrale Rolle spielt, lautet: Inwiefern sind die Enkel für das verantwortlich, was ihre Großeltern verbrochen haben?

Es gibt dieses berühmte Zitat von Max Mannheimer, das ich sehr wichtig finde: "Ihr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht." Diese Verantwortung für das Jetzt kann man nur dann übernehmen, wenn man die Vergangenheit aufarbeitet.

Die Enkelin wird zum Katalysator für diesen Prozess.

Ja. Gegen Ende sagt sie bei uns: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man singen!"

Sie haben an der Bayerischen Theaterakdemie Schauspiel- und Musiktheaterregie studiert…

… und das ist der einzige Studiengang in Deutschland, der Schauspiel- und Musiktheater-Regie in einem anbietet. Als ich mit dem Studium anfing, hatte ich ehrlich gesagt nichts am Hut mit Musiktheater, aber ich habe mich so in die damit verbundenen Fächer verliebt, dass Musik bei mir nie im Hintergrund stattfindet. Sie ist immer ein Mitspieler in der Inszenierung.

Die heutigen Güllener (Lorenz Hochhuth, Lukas Darnstädt, Henriette Nagel, Julian Gutmann) sind moralisch nicht viel besser als ihre Vorfahren.
Die heutigen Güllener (Lorenz Hochhuth, Lukas Darnstädt, Henriette Nagel, Julian Gutmann) sind moralisch nicht viel besser als ihre Vorfahren. © Gabriela Neeb

Weil sie vielleicht noch mehr als Sprache Emotionen transportieren kann?

Ja, gefällt mir, die Interpretation. Oder sie kann immer zu dem, was gesagt wird, eine weitere Schicht hinzufügen, kann den Bedeutungsraum erweitern oder dem Gesagten etwas entgegensetzen.

Die Enkelin sagt: "Ich habe keine Heimat. Außer die Musik". Trifft das auch auf Sie selbst zu?

Bei mir ist es weniger die Musik als das Theater. Ich habe als 18-Jährige Israel verlasse, weil ich mit der Situation dort nicht mehr zurechtkam. Den Militärdienst, der in Israel auch für Frauen obligatorisch ist, habe ich nicht geleistet, ich bin damals regelrecht geflohen. Wenn ich heute nach Israel reise, fühle ich mich dort eher fremd, so ein bisschen wie eine Touristin. Und Deutschland ist auch nicht meine Heimat, egal, wie wohl ich mich hier fühle oder nicht. Den Begriff der Heimat verbinde ich also eher mit dem Theater - oder mit der hebräischen Sprache. Wenn ich ein hebräisches Lied höre oder mit meinem Kindern Hebräisch spreche, fühlt sich das ein bisschen nach Heimat an.

Am Volkstheater ist weiterhin Ihre Inszenierung von "Animal Farm" zu sehen, da verhandelt eine Tiergemeinschaft Fragen von Diktatur und Demokratie. Und Ihre Inszenierung von Maya Arad Yasurs "Amsterdam" läuft seit sechs Jahren auf der kleinen Bühne und handelt ebenfalls von Traumata.

"Amsterdam" ist vom Prinzip her sehr ähnlich zu unserer Version der "alten Dame". In beiden Stücken steht die Vergangenheit plötzlich ungefragt vor der Tür. Das Stück handelt von einer israelischen Geigerin, die für ihre Kunst in Amsterdam ist, und eine viel zu hohe Gasrechnung aus dem Jahr 1944 zugeliefert bekommt. Weshalb sie anfängt, zu recherchieren.

Zum Darsteller-Trio in "Amsterdam" gehört Nina Steils, die jetzt die Enkelin spielt und mit der Sie häufig zusammenarbeiten. Was mögen Sie an dieser Schauspielerin?

Ich finde, Nina kann echt große Texte sprechen, ohne dass sie kitschig klingen. Sie ist sehr frei in ihrem Spiel, und selbst wenn sie auf der Bühne eine Figur spielt, die total durchdreht, hat diese Figur für mich immer hohes Identifikationspotential. Ich finde immer einen Zugang zu ihr. Für mich ist sie eine Inspiration.

Die Premiere an diesem Samstag um 19.30 Uhr ist ausverkauft, wieder am 30. April und 1. Mai

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