Kritik

Radikal jung: "Arbeit und Struktur" als Theaterstück

Wolfgang Herrndorfs Buch in einer Bühnenfassung aus Düsseldorf
Michael Stadler |
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Vital im Angesicht des Todes: Der Autor Wolfgang Herrndorf und seine Schöpfungen, verkörpert von Florian Lange (links), Moritz Klaus (Mitte) und Caroline Cousin.
Melanie Zanin Vital im Angesicht des Todes: Der Autor Wolfgang Herrndorf und seine Schöpfungen, verkörpert von Florian Lange (links), Moritz Klaus (Mitte) und Caroline Cousin.

Und erneut nutzt das Theater die Bildkraft des Kinos. Kleine Teilchen schweben zu Beginn auf großer Leinwand in der Luft. Auf der Soundspur hört man eine Erinnerung von Wolfgang Herrndorf.

Einst zauberte die Dämmerung bunte Teilchen ins Zimmer des zweijährigen Jungen, "wie bei einem Fernseher, wenn man zu nah rangeht". Das Gesicht des von Florian Lange verkörperten Herrndorf sieht man daraufhin im Live-Video auf der Leinwand. Wenn er sich der Kamera nähert, gleißt sein Gesicht hell auf, verliert seine Konturen. Es ist das Gesicht eines Mannes Mitte 40, der gerade die Diagnose bekommen hat, dass ein Tumor in seinem Gehirn wuchert und ihm nicht mehr viel Lebenszeit lässt.

Was eine Bühnenfassung leisten kann

Anstatt an Urlaub zu denken, verfolgte Herrndorf weiterhin seinen Beruf, seine Passion: Er schrieb noch mehrere, sehr erfolgreiche Bücher, verfasste zudem ein digitales Tagebuch, das, nachdem Herrndorf sich 2013 das Leben nahm, als Buch veröffentlicht wurde: "Arbeit und Struktur". Daraus hat ein Freund Herrndorfs, Robert Koall, eine Spielfassung erstellt, die 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo Koall Chefdramaturg ist, uraufgeführt wurde. Regie führte Adrian Figueroa.

Beides, die Arbeit von Herrndorf und die Struktur, die ihm die Arbeit gab, spielen in Figueroas Inszenierung eine zentrale Rolle. Auf der von Irina Schicketanz eingerichteten Bühne stehen zehn Würfel, neben- und übereinandergestellt auf zwei Etagen - eine stabile, doch flüchtige Konstruktion, die eine Wohnung darstellt und, mit Leinwand überspannt, zur Projektionsfläche wird.

Während Florian Lange in einem beherzten Akt der Einfühlung Herrndorf spielt, einzelne Blog-Einträge spricht und den von einer zentral gesetzten, rundum drehbaren Kamera mitgefilmten Alltag in der Wohnung aufrechterhält, verkörpern Caroline Cousin und Moritz Klaus die Figuren, die Herrndorf in seinen letzten Jahren erfand: Maik und Tschick und das Mädchen Isa, das die beiden Jungs auf ihrem Roadtrip kennenlernen und dem Herrndorf in "Bilder deiner großen Liebe" ein eigenes Buch widmete.

Am Ende Transzendenz

Was eine Literaturadaption im Theater leisten kann, macht Figueroas Inszenierung wunderbar deutlich. Herrndorfs Figuren erscheinen als Spiegel- und Traumbilder des Autors, sprechen Texte aus seinen Romanen, aus dem Blog.

Wenn Isa meint, dass sie den Lauf der Sonne - und der Zeit - mit ihrem Fingernagel aufhalten kann, fantasiert sie von einer Wirkmacht, die ihr Schöpfer nicht mehr hatte. Die Zeitanzeige vergrößert sich ins Monströse, die Würfel fahren in den Bühnenhimmel, die Strukturen um Herrndorf lösen sich auf.

Am Ende Lichtstrahlen, die schräg im Dunkeln in den Zuschauerraum hineinreichen, auf der Bühne kriselnde Teilchen im Videobild. Caroline Cousin spricht Georg von der Vrings "In der Heimat", ein Gedicht, das Herrndorf mochte und dem "du" einen Zustand "wie einst" prophezeit. Der Abend endet mit träumerischer Transzendenz, pathetisch, wunderschön. Mit seinem Werk wirkt Herrndorf über seinen Tod hinaus. Diese Inszenierung ist ein großartiges Requiem für ihn.

Das weitere Programm des Festivals unter www.muenchner-volkstheater.de

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