Pro und Kontra: Ist das Aus für Matthias Lilienthal bei den Kammerspielen richtig?
München - Der aktuelle Intendant der Münchner Kammerspiele, Matthias Lilienthal, wird seinen Vertrag nicht verlängern und das Theater 2020 verlassen. Eine Pro- und Kontra-Diskussion über den Weggang des streitbaren Intendanten.
NEIN: Lilienthal demokratisierte die Kammerspiele!
Es ist schon seltsam, wie unterschiedlich Erfolg und Misserfolg sich bemessen lassen. Die Auslastung der Kammerspiele, im letzten Jahr 63 Prozent, erzählen von einem Theater, dem das Publikum, vor allem das ältere, davon gelaufen ist. Jüngere Zuschauer kamen verstärkt. Sind also die Älteren borniert und konservativ, während die jüngeren offener für andere Formen sind?
So einfach ist das nicht. Neu und experimentierlustig ist ja nicht automatisch gut, genauso wenig wie Rollenspiel automatisch veraltet sein muss. Aber man fragt sich, ob in der CSU regelmäßige Theatergänger sitzen, die an ästhetischen Experimenten interessiert sind.
Lilienthal setzt sich mit gesellschaftsrelevanten Themen auseinander
Um Preise und Festivaleinladungen ist es gut bestellt. Dass zwei Produktionen – "Mittelreich" und "Trommeln in der Nacht" – zum Berliner Theatertreffen eingeladen sind, ist ein Erfolg. Als Ort der Auseinandersetzung mit gesellschaftsrelevanten Themen hat sich Lilienthals Haus etabliert, auch wenn einzelne Projekte zu didaktisch daherkommen.
Zu erleben ist auch ein Ensemble, das sich zunehmend eingespielt hat, auch wenn es mit der Identifikation des Zuschauers hapert. Bei Johan Simons jedoch sah die Demokratie im Ensemble so aus, dass jeder Spieler mal eine Nebenrolle, mal eine Hauptrolle spielte, was bei jeder Premiere seinen Reiz ausmachte: Wer ist dieses Mal Protagonist, wer unterstützt? Alle wirkten rührend zusammengeschweißt.
Lilienthal lebt die Demokratie
Unter Lilienthal sieht Demokratie so aus, dass man als Zuschauer häufig mit einer Gruppe gleichberechtigter Spieler konfrontiert wird. Oft stehen sie sogar bildlich auf einer Linie: zu Beginn von "Wut", zu Beginn von "Das Erbe", in "Trüffel Trüffel Trüffel" über fast eine Stunde hinweg.
Einzelne können hervorstechen, aber Lilienthals Kammerspiele bieten Thementheater mit einigen schauspielerischen Glanzlichtern, kein Schauspielertheater mit gelegentlichen Themenschwerpunkten. Vielleicht gingen auch deshalb einige aus dem alten Ensemble.
Ensemble voller Schauspieler mit Persönlichkeit
Dennoch ist das jetzige Ensemble voller bemerkenswerter Persönlichkeiten. Hassan Akkouch, Jelena Kulji('c), Julia Riedler, Thomas Hauser, Damian Rebgetz und so weiter – sie sind Spieler, die ihr Können und ihre Flexibilität unter verschiedensten Regiehandschriften bewiesen haben.
Mit Toshiki Okada oder Amir Reza Koohestani hat Lilienthal internationale Stimmen ans Haus geholt, die inspiriert inszeniert haben. Gewöhnungsbedürftig bleibt, dass die Kammerspiele kein reines Sprechtheater mehr sind. Stattdessen finden sich im Programm Gastspiele, Lesungen, Musikabende. Wer Veranstaltungen wie "Alien Disko" besuchte, kam beglückt da heraus, Schauspielhaus hin oder her. Mehr Theater hätte man dennoch als Forderung gut verstanden.
Vieles mit Erfolg ausprobiert
Angesichts des Gelingens der Produktionen in der letzten Zeit wirkt die jetzige Entscheidung als kurzsichtig. Zu befürchten ist nun, dass die Suche nach einem Nachfolger mit wenig Risikofreude betrieben wird. Einer wie Andreas Kriegenburg etwa kennt die Kammerspiele gut, aber hat zuletzt bezeichnenderweise am Residenztheater inszeniert, wo Theater mit modernem Anstrich geboten wird, manchmal aufregend, manchmal brav.
Ein zweites Resi braucht München nicht. Sondern ein Theater mit viel Drive zum Experiment. Mit Lilienthal haben die Kammerspiele derzeit noch einen Kopf, der Vieles ausprobiert. Und zwar auch: mit Erfolg.
JA: Lilienthal spielte vor leeren Reihen!
Nur keine Dolchstoßlegende! Es ist ein gefundenes Fressen für alle, die Bayern für eine reaktionäre Ordnungszelle halten: Die CSU hat mit ihrer Entscheidung, einer Verlängerung des Vertrags über 2020 hinaus nicht zustimmen zu wollen, das Ende von Matthias Lilienthal herbeigeführt.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Denn in diesem Fall gilt der legendäre Wahlkampfslogan von Bill Clinton: "It’s the economy, stupid!". Lilienthal hat es auch im dritten Jahr nicht geschafft, den Besucherrückgang zu stoppen. Immer wieder erzählen Schauspieler, dass sie vor leeren Reihen spielen. Die offiziell mit 63 Prozent angegebene Auslastung ist zu schwach, wenn auf der anderen Seite der Maximilianstraße im Residenztheater über 80 Prozent erzielt werden.
Berliner Hochmut des Intendanten
Man kann nicht auf Dauer gegen das Publikum einer Stadt anspielen, das Lilienthal, wie er immer wieder durchblicken lässt, für dimpflig hält. Dieser Berliner Hochmut kommt vor dem Fall. Lilienthal schmückt sich gerne mit dem Berliner Theatertreffen und den Wiener Festwochen. Aber die laden Produktionen auch deshalb ein, weil sie politisch interessant sind und nicht nur aus ästhetischen Gründen. Wirklich enthusiastische Kritiken sind in den vergangenen drei Jahren auch in den überregionalen Zeitungen nicht erschienen.
Aber wir schweifen ab. Es geht um das Geld und den chaotischen Betrieb. Lilienthals Hauptproblem ist die Kammer 1: Er kann sie kaum füllen. Die Kammerspiele retten sich mit Lesungen, Konzerten und Filmen über die Runden. Die gibt es anderswo auch. Aber nur an proben- und betriebsbedingten Schließtagen.
Mit Popkonzerten die Auslastung geschönt
An den Kammerspielen ist das unbespielte Haupthaus der Regelzustand: Heute findet dort ein World-Music-Konzert der kubanischen Zwillingsschwestern Ibeyi statt. Kammer 2 und 3 haben spielfrei, während das Staatsschauspiel auf zwei von drei Bühnen spielt und eine Vorstellung ausverkauft ist.
Lilienthal schönt dagegen mit Popkonzerten die Auslastung. Aber die Kammerspiele bekommen nicht 30 Millionen Euro jährlich von der Stadt, damit dort ein zweites Muffatwerk, ein zweites Literaturhaus und ein zweites Lustspielhaus aufgezogen werden. Und als Sozialbürgerhaus der Altstadt sind sie auch nicht gedacht.
Unter Lilienthal droht das Schauspielhaus zum Bespieltheater zu werden. Ein Trend, den die Zusammenarbeit mit freien Gruppen aus dem Performance-Bereich verstärkt. Deren Arbeitsweise ist mit dem Ensemble-Betrieb eines Stadttheaters deutscher Prägung nur bedingt vereinbar: Zum Performen braucht man weder hoch spezialisierte, lang ausgebildete Schauspieler mit Jahresverträgen noch teure Werkstätten. Dafür reichen prekär Beschäftigte mit Stückverträgen und noch schlechter bezahlte Tänzer, die sich selbst ausbeuten.
Schleichende Zerstörung gewachsener Theaterstrukturen
In den Produktionshäusern, die in den Niederlanden an die Stelle der Theater getreten sind, ist diese Arbeitsweise die Regel. Lilienthal ist drauf und dran, in den Kammerspielen diesen Kunstbetrieb neoliberaler Prägung einzuführen. Wollen wir in München wirklich eine schleichende Zerstörung gewachsener Theaterstrukturen, wie sie an der Berliner Volksbühne durch den Lilienthal-Spezi Chris Dercon von vielen Beobachtern befürchtet werden?
Übrigens kocht Richard Quaas, der Kultursprecher der CSU im Stadtrat nicht nur wie Lilienthal mit Syrern. Er engagiert sich ganz konkret für die Integration von Flüchtlingen. Damit ist er zwar in seiner Partei ein ziemlicher Außenseiter. Bayern ist eben bunter, als Berliner denken. Denn wir sind manchmal ein bisschen konservativ, aber nicht blöd.
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