Philipp Stölzl über "Andrea Chénier" im Nationaltheater
Die Französische Revolution frisst ihre Kinder. Umberto Giordanos Oper „Andrea Chénier“ erzählt das Leben eines idealistischen Dichters, der sich zunächst für die Freiheit einsetzt, alsbald gegen die Anführer der Revolution stellt und während der Herrschaft Robespierres hingerichtet wird. Umberto Giordanos historischer Bilderbogen war vor Jahren am Gärtnerplatz zu sehen, wurde aber noch nie im Nationaltheater gezeigt. Anja Harteros und Jonas Kaufmann singen die Hauptrollen. Omer Meir Wellber dirgiert. Die Inszenierung stammt von Philipp Stölzl.
AZ: Ein Filmregisseur inszeniert eine Oper, die bisweilen wie Filmmusik klingt und der eine Kino-Dramaturgie nachgesagt wird. Ist da was dran?
PHILIPP STÖLZL: Die Komponisten des Verismo haben sich gefragt: „Was ist draußen in der Welt los und wie schaffen wir ein Abbild, dem Wahrheit innewohnt?“. Es ist die Zeit des Naturalismus. Sie nimmt vieles vom Film vorweg, zugleich ist der Verismo verwandt mit französischen realistischen Romanen von Emile Zola.
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Wirkt sich das auch auf die Musik aus?
Bei Verdi sind immer noch alte Formen wie Rezitativ und Arie erkennbar. Die Generation von Umberto Giordano hält alles im Fluss. Der formale Rhythmus wird realistischer. Die Musik gräbt sich psychologisch stärker in die Figuren hinein und führt den Zuschauer emotional.
Also ein Identifkationsangebot wie im Kino?
Eine Händel-Oper schaut man sich analytischer an. Bei „Andrea Chénier“ muss man diese Transferleistung nicht erbringen. Die Musik greift einen und nimmt einen mit. Auch das ist filmisch gedacht. Giordano komponierte die Oper 1896 – das ist die Zeit der allerersten Filmvorführungen.
Die Französische Revolution war auch schon ein Thema des frühen Kinos. Alle Filme, die mir einfallen, haben eins mit der Oper „Andrea Chénier“ gemeinsam: Sie dämonisieren die Revolution schlecht und setzen sie mit dem Terror der Jakobiner gleich.
Jein. Da gebe ich Ihnen nur zum Teil recht. Natürlich spielt die Gier nach der Sensation und der Guillotine eine Rolle. Es war eben eine sehr blutige Geburt der Demokratie. Im letzten Jahr der Herrschaft von Robespierre wurden – glaube ich – 70 000 Leute hingerichtet. Das waren fast stalinistische Säuberungswellen. Dass nach Napoleon die moderne Demokratie entsteht, ist schön für uns. Aber das Chaos dieser Jahre hat eine schaurige Größe. Und das regt nun mal am ehesten Kunst an.
Wie verhält sich die Oper da?
Sie ist ambivalent: Der erste Akt spielt kurz vor dem Sturm auf die Bastille. Er zeigt die adelige Dekadenz und die Wut der Dienstboten. Da ist der Zuschauer ganz auf der Seite der Unterdrückten und von Cheniér, der seine Kritik verklausuliert formuliert. Die Oper überspringt dann die Herrschaft der Girondisten und die Zeit von Cheniérs politischer Aktivität. Die übrige Handlung spielt in der Spätphase der Hinrichtungen, der Schauprozesse und allgegenwärtiger Denunzianten. Da identifizieren wir uns eher mit den Aristokraten und liberalen Demokraten, die im Untergrund leben müssen. In diesen Szenen zeigt sich bereits die Fratze des Populismus.
Das Schluss-Duett endet mit dem Aufschrei „Es lebe der Tod“ – später eine Parole der spanischen Faschisten.
Mich erinnert das eher an den jungen Werther und den Wunsch intensiv zu leben und zu sterben. Das ist auch eine revolutionäre Geste. Und ein möglicher Schlüssel, diese Figuren zu begreifen. Chénier und Maddalena sind poetisch fiebrige, ein wenig lebensuntüchtige Hauptfiguren. Sie entscheidet sich, mit ihm zu sterben. Der Wunsch, mit geradem Rücken auf das Schafott zu steigen, gibt den Figuren ihre Würde zurück.
Nach allem, was Sie sagen, ist es unmöglich, diese Oper ohne historische Kostüme zu inszenieren.
Sie ist wie der Film „Vom Winde verweht“ – ein großes historisches Panorama. Vor dem spielen sich Einzelschicksale ab, die von der Geschichte geprägt werden. So muss man „Andrea Chénier“ auch erzählen. Als Filmemacher empfinde ich keinen Grusel vor historischer Ausstattung.
Sie sind Münchner. Haben Sie alte Erinnerungen ans Nationaltheater?
Mein allererster Opernbesucher war „Hänsel und Gretel“. Ich erinnere mich an den gemalten Wald und an meine Ungeduld, bis endlich die Hexe kam. Und natürlich an das Eis mit heißen Himbeeren in der Pause.
Premiere am Sonntag, 12. März, 19 Uhr im Nationaltheater, ausverkauft. Live-Übertragung auf BR Klassik ab 18.30 Uhr. Die Vorstellung am 18. März als Livestream auf staatsoper.tv im Internet