Kritik

Opernhaus Bayreuth: Den Spiegel vorhalten

Leonardo Vincis Oper "Alessandro nell'India" im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth.
von  Marco Frei
Groteske und Bollywood: "Alessandro nell'India" im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth
Groteske und Bollywood: "Alessandro nell'India" im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth © Falk von Traubenberg

Wer eine italienische Barock-Oper ganz ohne Striche aufführen will, braucht viel Humor und eine hohe musikalische Qualität. Beides hat Max Emanuel Cencic. Als Countertenor, der in diesem Jahr sein 40. Bühnen-Jubiläum begeht, verfügt er über ein starkes Netzwerk. Davon profitiert auch sein 2020 gestartetes Festival "Bayreuth Baroque". Als Regisseur nimmt Cencic zudem die Welt und sich selbst nicht allzu sehr ernst. Er quetscht eben nicht aus jedem Stoff eine neunmalkluge Deutung, um sich selbst als Erleuchter zu zelebrieren.

Cencic liebt das Leichte, auch skurril Groteske. Die Gesellschaft wird zwar verhandelt, allerdings mehr im Stil der "Commedia dell’arte". Ein Spiegel wird ihr vorgehalten: unmerklich, ganz subtil. Zur Barock-Oper aus Italien passt dieses Profil vortrefflich. Für die dritte Ausgabe von "Bayreuth Baroque" hat sich Cencic trotzdem sehr viel vorgenommen. Im Markgräflichen Opernhaus inszenierte er als Eröffnungspremiere den Dreiakter "Alessandro nell’India" von Leonardo Vinci (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Universalgenie).

Wie in 1730: Reine Männerbesetzung

Dabei wurde das Werk nicht nur vollständig gegeben, sondern zudem in der originären, reinen Männerbesetzung. Bei der Uraufführung 1730 in Rom galt im damaligen Kirchenstaat ein Auftrittsverbot für Frauen. Es gibt in der Operntradition eben nicht nur Hosenrollen für Frauen, sondern auch Rock-Rollen für Männer. Hier gilt das für Erissena, die Schwester des indischen Königs Poro, sowie für die indische Königin Cleofide. Dass heute diese Oper nur mit Männern überhaupt aufgeführt werden kann, ist der rasanten technischen Entwicklung des hohen Männergesangs seit Mitte der 1990er Jahren zu verdanken.

Ein Franco Fagioli schmettert die tollkühnsten, hochdramatischen Koloraturen, und ein Bruno de Sá singt derart hoch und hell, dass man ihn im Timbre für eine Frau halten kann. Auf der Vinci-Premiere mit dem stilkonform aufspielenden "Oh!-Orkiestra" aus Polen unter der Leitung der Geigerin Martyna Pastuszka waren beide gesanglich die überragenden Sieger: Fagioli als Poro und de Sá als Cleofide. Gleichzeitigen haben die weiteren drei Counter-Tenöre der einzigen gewöhnlichen Männerstimme die Schau gestohlen. Jedenfalls blieb Tenor Stefan Sbonnik in der Rolle des Poro-Vertrauten Gandarte etwas blass und matt.

Ganz anders Jake Arditti als Erissena, Nicholas Maayan Licht in der Titelpartie oder Nicholas Tamagna als Alessandros Feldherr und heimlicher Gegner Timagene: Sie haben darstellerisch wesentlich dazu beigetragen, dass die Regie von Cencic prächtig aufging. Er inszeniert den Stoff um den Sieg von Alexander den Großen über die indische Armee in der Schlacht am Hydaspes als Theater im Theater.

Eine barocke Miniatur-Bühne

Dafür hat Domenico Franchi eine fahrbare, barocke Miniatur-Bühne gezimmert. Zwei überdrehte Schauspieler führen durch die Handlung. Auch die Kostüme von Giuseppe Palella verweisen auf die "Commedia dell’arte". Sonst aber entwirft Cencic eine herrliche Travestie-Klamotte in Manier des Kultfilms "La cage aux folles" von 1978. In diesem "Käfig voller Narren" vergehen die fünf Stunden mit zwei Pausen wie im Flug. Ganz nebenbei hält Cencic der aktuellen Gender-Debatte einen Spiegel vor.

Was heute bisweilen ideologisch überhitzt diskutiert wird, ist in der Opern-Tradition seit Jahrhunderten längst gelebte Realität: das Wechselspiel um Geschlecht und Identität. Am Ende des ersten Akts liefern sich die Cleofide von de Sá und Fagiolis Poro einen Gesangs-Wettstreit in "Meistersinger"-Manier. Sie trällert die Königin der Nacht von Mozart, er "La donna è mobile" aus Verdis "Rigoletto": ein frecher Seitenhieb von Cencic auf die benachbarten Wagner-Festspiele? Eines steht fest: Bei "Bayreuth Baroque" ist nicht zuletzt eine fesselnde Vielfalt an Counter-Timbres zu erleben. Das ist in dieser Form einzigartig.


Wieder am 9. und 11. September. Bayreuth Baroque läuft noch bis zum 18. September. Karten und Infos unter: bayreuthbaroque.de

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